Rolf Badenhausen (Hrsg.)
 
Kommentierte Zitate:
 
Heinz Ritter-Schaumburg über seine Thidrekssaga-Forschung
Sein Grundsatz am Beispiel seiner Antwort auf die Kritik von Gernot Müller(1)
 
 
Ich war von der Thidrekssaga ausgegangen, ohne auf das Nibelungenlied oder die Edda zurückzugreifen. Ich hatte nach den Gesetzmäßigkeiten und Ursprüngen der Thidrekssaga gefragt. Und ich hatte in der Thidrekssaga ein eigenständiges Werk erkannt, das auf jene anderen Werke nicht zurückging. So bin ich in einem Gegensatz zu der herrschenden Germanistik geraten.(2)

Ritter-Schaumburg erläutert seine scheinbar unorthodoxe Vorgehensweise zur Erforschung der Thidrekssaga mit diesen Worten:

Aber der Zwiespalt liegt doch auch noch an anderer Stelle. Die Germanistik behandelt die Thidrekssaga ganz selbstverständlich als eine Dichtung und sucht nach der Herkunft ihrer Motive. Ich selbst kam von der Naturwissenschaft zur Germanistik. Daher ist mir die naturwissenschaftliche Methode tief eingeprägt. In der Naturwissenschaft sucht man immer nach gegebenen Wirklichkeiten. Die Naturwissenschaft arbeitet mit dem Experiment als ihrer Methode: Eine These wird aufgestellt. Sie ist zunächst eine Vermutung. Sie wird behandelt, als ob sie richtig wäre. Stellen sich nun Widerstände oder Widersprüche ein, so ist etwas an der These nicht richtig. Stellt sich kein Widerspruch ein, so wird die These als richtig angenommen, jedenfalls solange, bis ein Widerspruch erscheint.

Bekanntlich verweigerte ihm dazu – für die Anerkennung seiner aus der Thidrekssaga abgeleiteten Thesen – die vorherrschende Lehre ihre Gefolgschaft. Im somit unvermeidlichen argumentativen Schlagabtausch reagierte Ritter-Schaumburg auch auf den eng an Andreas Heuslers Sichtweise orientierten und von Gernot Müller entsprechend umgemünzten „Entmythologisierungsvorwurf“:

Gewiß hat auch die Thidrekssaga einiges, das an Märchen- und Mythenhaftes wenigstens denken läßt, und sie hat auch romanhafte Einschübe. Aber all das ist doch nicht das Wesentliche der Thidrekssaga, sondern ist Anhängsel oder später dazugekommen. Wesentlich sind ihre Berichte über die Herrschergeschlechter, ihre Völker und Kriegszüge, über Ereignisse und Personen einer frühen Zeit. Andreas Heusler hat sie nicht für wahr nehmen wollen, und nennt dies einen „eigentümlich realistischen, chronikhaften, scheinhistorischen“ Zug, zu dem Gernot Müller polemisch meint:

„Diesem Zug ist Ritter auf den Leim gegangen. Mit verbissener Konsequenz erklärt er ihn für echt und beherrschend und datiert ihn zurück bis ins 6. Jahrhundert.“

Dem nicht unrepräsentativen Vorwurf von Müller, dass hier eine poetologisch verfestigt zu sehende Überlieferung ungebührlicherweise als chronistische Vermittlung ausgelegt und überdies noch einer bestimmten Epoche zugeordnet wurde, entgegnet Ritter-Schaumburg:

Im Gegensatz dazu hatte ich mir die Frage gestellt, ob die Thidrekssaga Wirklichkeit und Geschichtliches enthalte. Außerdem hatte ich die Thidrekssaga nicht einfach „zurückdatiert bis ins 6. Jahrhundert“, sondern ich hatte sehr genau begründet, weshalb die Thidrekssaga – in ihren wesentlichen Teilen – nur in jener Zeit entstanden sein kann.
 
Was mir Gernot Müller vorwirft, ist nicht, daß ich Fehler gemacht hätte – Fehler weist er mir nicht nach – er kritisiert, daß ich die Thidrekssaga, wie er meint, „entmythologisiere“ und sie ihrer märchenhaften Elemente entkleiden wolle. Aber auch hier mißversteht er meinen Ansatz. Ich habe gefragt, was die Thidrekssaga wohl meine, und ob ihre Meinung nicht viel nüchterner sei, als man ihr immer, vom Nibelungenlied herkommend, „andichten“ will.

Wie vielen an unverrückbaren bibliografischen Wertigkeitsordnungen glaubenden Literaten mag Gernot Müller aus der Seele gesprochen haben? Wenn er tatsächlich auf Ritter-Schaumburgs Seite eine gar übermäßige „Poesiegläubigkeit“ als „Verlust“ glaubhaft verbuchen will, sollten wir dann Müllers Bilanzseite einen um so deutlicheren Gewinn an realgeschichtlichem Erkenntnisvermögen wünschen? In Gernot Müllers Äußerungen erkennt Ritter-Schaumburg die deutlich reaktionär gefärbte Hauptkritik an seiner Thidrekssaga-Forschung, zugleich aber auch unübersehbare germanistische Defizite in dem Unvermögen oder der Weigerung, hinter „inspirativem poetischen Glanz“ reale Hintergründe anzunehmen oder tolerieren zu wollen. Er führt daher zu den von Müller angeführten und nach Goethes dichterischer Einbildungskraft womöglich unantastbaren „Meerweibern“ noch beispielhaft aus:

Ich stellte beispielsweise die einfache Frage: Was meint die Thidrekssaga mit den zwei „Seeweibern“ oder „Wasserfrauen“, denen Hagen am Rhein „bei hellstem Mondschein“ begegnet? Sv 308 sagt da:

„Er kam zu einem Wasser, das Möre hieß, und sah da irgendwelch Volk im Wasser und sah ihre Kleider am Wasser liegen. Er nahm die Kleider und verbarg sie. Das war kein anderes Volk, das er sah, als zwei Seeweiber, die fuhren vom Rhein und zu dem See, um sich zu vergnügen.“

Was ist hier Mythologie? Wenn es „Wassergeister“ waren, weshalb legen sie ihre Kleider ab, wenn sie baden? Ist so etwas üblich bei Wassergeistern? Gehören nicht zu ihnen schleierartige Gewänder, die nie naß werden, nie am Körper festklatschen, immer schweben? Und ihr Ende?

„Da zog Hagen sein Schwert und zerschlug die Seeweiber. Er hieb sie mitten durch, Mutter wie Tochter.“

Da lagen denn zweimal zwei halbe Seeweiber in dem Wasserteich. Und damit soll die Thidrekssaga Wassergeister gemeint haben? Hat man die „Seeweiber“ nicht vielmehr nachträglich „mythologisiert“?

Mir scheint, wer behauptet, ich entmythologisiere, der liest gar nicht die Thidrekssaga (vor allem nicht die Svava), sondern dem stehen die Wasserfrauen des Nibelungenliedes vor Augen, die über dem Brunnen „swebeten“, oder gleich Richard Wagners „Rheintöchter“ und von diesen dichterischen Gebilden möchte er sich nicht lösen. Und so lautet denn auch der abschließende Klagegesang Gernot Müllers: „Was er“ (Ritter) „aber letztlich in seinem Sturmlauf gegen alle Erkenntnisse der Forschung ‚gewinnt’, ist ein Verlust. Allzu poesiegläubig – wenn auch wider Willen – sterilisiert er Heldendichtung zu nüchterner chronikalischer Berichterstattung und löscht damit an ihr ihren poetischen Glanz. So wird ihm die Meerweiber-Episode, ein literarischer Stoff, der noch Goethes dichterische Einbildungskraft zu einer Ballade inspirierte, zur prosaischen Szenerie eines realen Gesprächs zwischen Hagen und ‚Schiffer- oder Fischerfrauen’ (56), in dem es nicht um eine Prophezeiung überirdischer Wesen, sondern um die Schwierigkeiten der Überfahrt über den Rhein (ebd.) bei Merkenich und Wiesdorf in der Völkerwanderungszeit geht.“

Nach Ritter-Schaumburgs Position haben Forschung und Lehre zu der nach ihrer Auffassung „inhaltlich ostgotisch zu begreifenden Provenienz der Thidrekssaga“ keine überzeugende Argumentation für eine zur Vita Theoderichs des Großen plausibel auslegbare Sagentradition vorgelegt.(3)

Zu der von Ritter beanspruchten Gegenüberstellung von Kerninhalten der altwestnordischen Handschriften mit historisch bzw. historiografisch interpretierfähigen Überlieferungen über ostfränkische und sächsisch-baltische Geschichte des 5. und 6. Jahrhunderts ist eine fundierte fachwissenschaftliche Resonanz – man bedenke für Dietrich von Bern jenen sonst nirgends überlieferten „Bonner Kleinkönig“ – bislang weitgehend ausgeblieben.


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1 Gernot Müller: Allerneueste Nibelungische Ketzereien in: Studia Neophilologica 57 (1985), S. 105–116.  
 
2 Heinz Ritter-Schaumburg: Der Schmied Weland, Georg Olms Verlag, Hildesheim / Zürich / New York (1999), S. 188f.  
 
3 Vgl. u.a. Rolf Badenhausen: Zwölf um Dietrich von Bern • Heldenphysiognomie aus der Retorte?
   Ders.: A Modern Review of Thidrekssaga: Merovingians by the Svava