Erstveröffentlichung 2011
Aktualisiert  28.02.2020
 
Rolf Badenhausen
 
Swanhilds Spuren in der Thidrekssaga?
 
Aus dem historiografischen Milieu ihrer Handschriften tritt neben dem „hunischen“ bzw. niedergermanisch lokalisierten Attila-Attala-Atala (=„Väterchen“?) Dietrich von Berns Oheim Ermenrik als kaum minder mächtiger Großkönig hervor. Nach geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen lässt sich dieser Ermenrik jedoch weder mit dem im 5. Jh. auf der Iberischen Halbinsel regierenden Sueben-König Hermerico (Hermanarici, Hermerich) noch mit dem Ostgotenherrscher Ermanarich aus dem Geschlecht der Amaler in historische Übereinstimmung bringen.
 
Zum Erstgenannten ließe sich anführen, dass auch ihn eine Erkrankung regierungsunfähig gemacht und er auf seinem gleichwohl hart westlichen Marsch aus dem östlichen Donauraum nach Gallien und schließlich nach Galizien römische Limes durchschritten haben soll. Jedoch stehen diese Zugrichtungen einer hinreichenden Gestaltenidentifizierung entgegen. Auch die geopolitischen Aktivitäten des großen ostgotischen Greutungenkönigs sprechen eindeutig gegen seinen Auftritt in der Thidrekssaga. Somit bliebe zunächst grundsätzlich zu folgern, dass mit zwei namentlich oder phonetisch gleichen historischen Herrschern des  4. und 5. Jhs. die Existenz eines weiteren dritten nicht kategorisch ausgeschlossen werden darf.
 
Allerdings verdienen zwei erheblich verschiedene Darstellungen vom Tod des älteren ostgotischen Ermanaricus (Aírmamareiks) eine Nachlese im Kontext mit der Thidrekssaga über Dietrich von Bern. Alexander H. Krappe schreibt diese Einleitung in seinem Aufsatz  A Romance Source of the Samson Episode in the Þidreks Saga [1923:164]:
 
Of all the versions of the Ermanarich legend the Þidreks
Saga is the only one which mentions three sons of the
king, called Frederick, Reginbald and Samson. 
Ermanarich’s evil councillor, Sifka, induces the king to
send the two oldest to Vilkinaland and England to 
demand tribute, and causes them to perish on their way. 
Then he accuses the youngest son of having tried to 
violate Sifka’s daughter. Ermanarich, who is just on a 
hunting expedition, in great anger rushes upon the 
innocent young man and pulls him by the hair so that he 
falls from his horse and is trampled to death by his 
father’s steed.
 
Und er folgert aus dieser Darstellung eine nicht überzeugende Rezeption:
 
In a forthcoming monograph I shall try to show that 
the motif of the violation of Sifka’s daughter must be
considered a “doubling,” very unskillfully done by the
author of the saga, as, it is absurd to suppose that 
Ermanarich killed his son for a crime of which 
Ermanarich himself had been guilty. I shall also point 
out that the compiler had recourse to this device 
because he was at a loss as to how he could motivate 
Samson's death, the Svanhild episode having dropped 
out of the continental version of the Ermanarich 
Legend which was the basis of that part of the
Þidreks Saga.
 
Krappe, dessen Auffassung einer offenbar ungeschickten Dopplung des Swanhildmotivs hier nicht aufgegriffen werden soll, bezieht sich auf das von Jordanes weitergereichte Erzählungsmuster der Swanhild-Sage, wonach der Ostgotenkönig Ermanarich eine Sunilda als Vergeltung für den bündnispolitischen Abfall ihres Gatten vom Stamm der Rosomonen an wilde Pferde binden und auseinanderreißen ließ. Sunildas Brüder verwunden dafür Ermanarich aus Rache. 

Hingegen haben die Edda-Texter und Saxo Grammaticus das unschuldige Opfer von scheinbar diesem Ermanarich zu dessen designierter Gemahlin erhoben. Zumindest wird hier einem Herrscher namens Jörmunrek/Jarmerik von seinem Intrigen spinnenden Ratgeber Bikki/Bekki/Bikko die Unzucht des Königssohns Randwer/Broder mit der väterlichen Angetrauten glauben gemacht und so zur Sühne genötigt. Der eddische Randwer, immerhin als Stiefsohn der durch Pferdegewalt getöteten Tochter von Sigurd und Gudrun bedacht, stirbt am Galgen, während Saxos Broder seinem geplanten Tod entrinnen kann. Nach beiden Überlieferungen wird mit rächerischem Vorgehen von Swanhilds Brüdern der König an den Gliedmaßen verstümmelt. Hans-Jürgen Hube möchte hierzu Saxos Herrscher immerhin insoweit „entlasten“, als „bei Jarmerik Saxo offensichtlich nicht mehr an Ermanarich den Ostgotenherrscher denkt“ [2004:481].

 
Die um die Jahrtausendwende verfassten und lediglich in einer späteren handschriftlichen Übertragung vorliegenden Quedlinburger Annalen berichten, dass Ermenrich nach dem Tod seines offenbar einzigsten Sohnes Fridericus auch seine Neffen Embrica und Fritila am Galgen aufhängen ließ. Diese Annalen schreiben außerdem, dass dieser Ermanarich seinen Neffen Theodericus auf Betreiben eines Odoaker (!) – eines anderen Blutsverwandten (!) – aus Bern vertrieb und dem Flüchtenden von einem König namens Attila Unterschlupf gewährt wurde. Und wie diese Quelle weiter vorgibt, soll dieser Ermanarich von den Brüdern Hemidus (Hamdir/Heimdo), Serila (Sörli) und Adaccar (Addacarus, Erp, Odoaker [!]) an Händen und Füßen verstümmelt und umgebracht worden sein, weil er für den Tod ihres Vaters gesorgt hatte. Die um 1050 verfasste Chronicon Wirciburgense amalgamiert ebenfalls mit Dietrich von Berns Vita verbundene Zusammenhänge.
 
Nach den Quedlinburger Annalen kann es sich bei den zuerst und zuletzt genannten „Odoaker“ jedoch nicht um den/die historischen Gegner von Theoderich dem Großen handeln.
 
Der gegenüber Jordanes verlässlicher kreditierbare römische Historiker Ammianus Marcellinus überliefert einen Tod des ostgotischen Ermanarich, der jedoch am wenigsten der mittelalterlichen Vorstellung eines rühmlichen Herrschers entspricht. So dürfte Marcellinus das Interesse an Jordanes' Darstellung eher genährt haben, der nach gegenwärtiger Auffassung allerdings nur wenig Aussicht auf historische Glaubwürdigkeit eingeräumt wird.
 
Zu Krappes Urteil, der Verfasser des oben wiedergegebenen Thidrekssaga-Berichts habe ein ungeschickt kopiertes Motiv umgesetzt, ist anzumerken, dass sich in mediävalem Schrifttum für „gute oder schlechte Rezeption“ jedoch kaum objektive Bewertungsmaßstäbe finden lassen.
 
Vielleicht kann aber die Fragestellung, ob sich hinter der Ermanarich-Swanhild-Legende zur Sage gewordene Geschichte verbirgt, weiterhelfen. Genauer gefragt: Könnte hinter Ermenrik der Thidrekssaga jener Prototyp stehen, dem anderenorts Persönlichkeits- und Umfeldmerkmale von rezipierender Stoffverarbeitung hinzugefügt wurden?
 
Allerdings kann das Ableben von diesem Ermenrik nicht mit einer Rachehandlung in Verbindung gebracht werden. Verbliebe demnach die Übernahme der schweren Erkrankung des Sueben-Königs für den Abgang von Dietrichs Oheim? Aber dessen Tod dürfte für einen Despoten nach Art des überlieferten Ermenrik wohl kaum den üblichen Erwartungsansprüchen an mittelalterlichem Heldenverständnis und erzählerischer Moral gerecht werden, vgl. z. B. die im 16. Jh. gedruckte Fassung einer Überlieferung von Koninc Ermenríkes Dôt aus einer anderen Perspektive.
 
Im Zusammenhang mit mahnender politischer Beispielgebung aus offensichtlich früher fränkisch-germanischer Geschichte finden wir bei Flodoard (898–966) einen zitierten Passus aus den verlorenen  libri Teutonici [vgl. Verfasser 2007:375]:
 
... bezieht er sich auch auf einen gewissen Hermenric aus 
den libri Teutonici, der, auf verruchte Ratschläge seines
Beraters, all seine Nachkommen zum Sterben bestimmte ...
 
Mit offensichtlich divergierenden historischen Darstellungen der Gestalten „Odoaker“ und „Theoderich“ vermischen die Quedlinburger Annalen unterschiedlicheTraditionslinien.(1) Sowohl die libri Teutonici, soweit der von Flodoard zitierte Auszug erkennen lässt, als auch die niederdeutsche Quelle von der Thidrekssaga und den altschwedischen Handschriften überliefern zum charakteristischen Bild des in Romaburg sitzenden Ermenrik dessen heimtückisch agierenden Berater als tragende Säule entscheidender Partien. Jedoch verweigert der niederdeutsche bzw. dem Soester Geistlichenmilieu zugeschriebene Chronist/Historiograf als Vorlagengeber der Thidrekssaga und altschwedischen Überlieferung eine erwartungskonforme Gestaltung des Todes vom despotischen Herrscher und führt sein Ableben vielmehr auf dessen Fettleibigkeit zurück. Also nach Krappe ein weiteres ungeschicktes Vorgehen des naiven Sagamanns oder schlichtweg eine von seinen naiven Lesern unerkannte Subtilität? Doch ein Blick in das offensichtlich verfügbare Quellenmaterial und Motivreservoir des niederdeutschen Quellenlieferanten der Thidrekssaga und altschwedischen Handschriften erweist, dass wir sicherlich von rezeptiver Stoffanpassung auszugehen haben.
 
Dass sie hierzu leicht in der Lage gewesen waren, belegt auffälligerweise mindestens eine unter den Handschriften der Thidrekssaga,(2) deren Schreiber Ermenriks jüngsten Sohn nicht unter der Gewalt von Pferdehufen, sondern den Königssohn gleich jenen eddischen Randwer am Galgen sterben sehen.
 
Doch können wir noch einen Schritt weitergehen, indem wir mit den obigen Einschränkungen nicht nur für Dietrich von Berns Oheim und seinen perfiden Ratgeber die gewandelten Prototypen aus den Stoffvermittlungen der Edda-Texter und von Saxo annehmen. Wenn uns längst die Hamðismál in forno und Guðrúnarhvǫt sowie der Kompilator der Vǫlsunga saga eine Svanhildr als Sigurds und Gudruns Tochter vermitteln, dann können wir mit Ritter-Schaumburgs Raum-, Zeit- und Gestaltenbeziehungen von Thidrekssaga und altschwedischer „Dietrich-Chronik“ – so für den Despoten, Sigurd und Grimhild/Gudrun – eine durch Einheirat von deren Tochter angestrebte Konsolidierung eines ostfränkischen Reichgefüges in der Zeit von Theuderich I. unschwer disponierbar machen.
 
Wenngleich der Vorlagengeber der Thidrekssaga und altschwedischen Texte sich nicht für eine geschichtliche Überlieferung eines Nachkommen von Sigurd und Grimhild/Gudrun interessiert, so lassen deren zum Scheitern verurteilten ehelichen Verbindungen – hier sowohl das Elternpaar als auch seine Tochter betreffend – in Ermenriks Ratgeber einen literarisch verdeutlichten Interessenvertreter des Merowingerkönigs Chlodwig erkennen. Und dieser wollte – so Gregor von Tours' unmissverständlicher Bericht – ein starkes rheinfränkisches Reich in der Größenordung eines überlieferungschronologisch später bezeichneten Ripuarien jedoch nicht neben sich dulden.
 
Endnoten
 
1  Die Berücksichtigung von Dietrich-Epik in geschichtlichen Zusammenhängen mit Theoderich dem Großen, dessen historischem Gegenspieler Odoaker und unhistorischem Erzfeind Ermanarich ist auch hier insofern problematisch, weil im vordringlichen Interesse eines stetig zu vergrößernden Stoffangebots (vgl. die damit oft einhergehenden numerischen Anschwellungen von „nominalen Identitäten“) in diesen Schöpfungen unterschiedliche, streng genommen und historisch gesehen jedoch unvereinbare Traditionslinien vermischt bzw. miteinander verbunden sind.
 
Die rekonstruktive Sondierung oder Synchronisierung bestimmter Gestalten- und Handlungsmuster selbst anhand der sog. historischen Dietrich-Epeni ist insofern wenig aussichtsreich, da keines dieser Werke für intertextuelle Vergleiche und literartypologische Rückschlüsse ein hinreichendes historisches Kontinuum bietet. Wenn dennoch mit solchem Vorgehen z. B. punktuell aufgezeigt wird, dass das Gestaltenbildnis eines „Ermanarich“ im Hildebrandlied des 9. Jhs. noch nicht auftaucht, kann damit längst nicht gefolgert werden, dass die Zweiheit „böser König und heimtückischer Berater“ zuvor von keinem oder nur wenig literaturgeschichtlichem Stellenwert – dazu mit oder ohne Verknüpfung mit einem Theoderich – gewesen sein muss.
 
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i Die Vitae des historischen Theoderich d. Gr. und die chronistische altschwedische Darstellung des „DIDRIK AF BERN“ differieren ebenso erheblich wie sich vor allem mhd. Dietrich-Epik um die Vereinigung beider Gestalten bemüht.
 
2   Eine Variante im altisländischen  Überlieferungsbestand. Ritter-Schaumburg zur Handschrift A:
 

Diese Handschrift ist dadurch interessant, daß sie mit nordischen Überlieferungen, wie der Vǫlsunga saga, in vielen Punkten übereinstimmt. A allein hat den Namen „Gudrun“ (statt Grimhild), hat die Namensform „Attala“ (statt Attila–Atilius), nennt (Kap. 342) Brünhild „Budlis Tochter“, berichtet (Kap. 348) Brünhilds frühen Tod nach Sigfrids Erschlagung, weiß (Kap. 155) den Namen „Signy“, der Schwester von Sigfrids Vater Sigmund. [1989:XXI–XXII]
 
Im Einklang mit der Vǫlsunga saga stirbt Brünhild gemäß Handschrift A nur wenig später nach Sigurd. Diese Handschrift ergänzt außerdem Mb 186, darin die Beschreibung von Sifka ('Sibich', 'Siveke'), mit dem Zusatz, dass „die Märinger ihn Bikki nennen“. Zu dessen handschriftlicher Lesart findet sich in den Anmerkungen (siehe Fußnoten) zu F. H. von der Hagens Übersetzung der Thidrekssaga die Schreibweise Bruni.
 
Von zweifellos besonderem inhaltlichen Stellenwert ist außerdem die Angabe des Scriptors der ältesten verfügbaren Handschrift, welche Niflungenbrüder zu Thidreks Gastmahl erscheinen und somit zu den auserlesenen Gefolgsleuten des Berner Königs gehören dürfen. Mb 170 schreibt nach der hier zitierten Übersetzung von F. H. von der Hagen:
.

König Thidrek hatte nun sichere Kunde ... und sandte Botschaft an König Gunnar, daß er zu seinem Gastmahl kommen und da große Ehre und Freundschaft annehmen möchte; ebenso bat er auch dessen Bruder Hǫgni und Guttorm.
 
Warum wird Guttorm vor seinen hier unerwähnten Brüdern vorgezogen? Ab diesem Passus möchte der Scriptor der Festlandhandschrift jedoch nicht weiter der Traditionslinie folgen, aus der sowohl die Texter der Helden-Edda als auch der Autor der Vǫlsunga saga schöpfen. Noch in gleichem Kapitel fügt der offenbar redigierende Schreiber diese kaum überzeugend klingende Entschuldigung ein:
.

Guttorm aber blieb daheim, weil er siech wäre.
 
Aus diesem Zusammenhang neigt Ritter-Schaumburg zu der Folgerung, dass Guttorm mit Gernoz-Gernholt gleichzusetzen wäre [1982:297]. Offenbar will also der dritte Schreiber der Festlandhandschrift seine stemmatologischen Vorstellungen mit mittelhochdeutscher Rezeption im Einklang sehen, setzt statt „Irung(r)“ vielmehr „Alldrian“ als den Namen des Königvaters. Dessen Schwiegervater nennt die altschwedische Handschrift A „Yrian“, der in Sage und Wirklichkeit auf S. 440 vom Verf. irrtümlich als Vater der Niflungen angegeben wird; eine weitere Korrektur erfolgt hier unter „Quellen“.
 
Dagegen deutet der Vorgänger von Mb 3 eine Traditionslinie an, die – wie deren eddische Überlieferung erkennen lässt – auf einer abweichenden Vermittlung beruht. Selbst die jüngere A-Handschrift lässt folgern, dass ein offensichtlich älterer niedergermanischer Traditionskomplex einer jüngeren und hier von der philologischen Autorität des dritten Redaktors der Festlandhandschrift geprägten Stoffauffassung weichen musste. Man beachte auch zu Gunnars Ende die Angabe von Handschrift A, wonach er – wiederum im Einklang mit heldeneddischer Überlieferung – in einen orma gard geworfen und darin sterben wird.
 
Ein erschöpfender Vergleich zu den Abweichungen der übrigen Textfassungen von Handschrift A kann hier zwar nicht geliefert werden, doch zu denken gibt vor allem jener Passus im Heime-Ludwig-Bericht, wonach nur die A-Handschrift Dietrich von Bern und nicht ihm die Brandschatzung des Klosters Wadhincúsan nachsagt.

Ritter-Schaumburg fordert: Eine Sonderarbeit über die Handschrift [A] fehlt meines Wissens bisher [1989:XXII]. 

Quellen 
 
Alexander Haggerty Krappe, A Romance Source of the Samson Episode in the Þidreks Saga; Modern Language Notes, Vol. 38, No. 3 (Mar., 1923), pp. 164–168. Published by The Johns Hopkins University Press.
 
Heinz Ritter-Schaumburg, Dietrich von Bern. Herbig, München 1982.
 
Heinz Ritter-Schaumburg, Die Didrikschronik oder die Svava. Otto Reichl – Der Leuchter, St. Goar 1989.
 
Hans-Jürgen Hube, Saxo Grammaticus. Marix Verlag, Wiesbaden 2004.
 
Rolf Badenhausen, Sage und Wirklichkeit. Dietrich von Bern und die Nibelungen. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2007.
[Im Zusammenhang mit Theoderich d. Gr. und seinem Heeresmeister Ibba ist dort S. 353 die unbeabsichtigte zweifache Negation zu korrigieren.]