18.07.2022
Die Nibelungensage
Kern der Wahrheit in der Svava?

von Rolf Badenhausen


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Das Exposé zum Buch mit Leseprobe.



 
EXPOSÉ Leseprobe
Das Exposé zum Buch mit Leseprobe.

Gebundene Ausgabe 2005, 301 S. [ISBN 978-3-86582-044-1]
58 Abb. (Fotos, Karten, 1 Diagramm- u. Tabellenstatistik)
€ 19,90 (Neuvertriebspreis inkl. Versand) über
bsaw.de
(Versand nur innerhalb von Deutschland)
Sage und Wirlichkeit. Dietrich von Bern und die Nibelungen.



 
Leseprobe
Leseprobe 'Sage & Wirklichkeit ...'

Kapitalband 2007, 574 Seiten [ISBN 978-3-86582-589-6]
€ 24,90 (Neuvertriebspreis inkl. Versand) über
bsaw.de
(Versand nur innerhalb von Deutschland)
»Diese Saga ist eine der größten Sagas, die in deutscher Sprache verfasst wurden...
Hier kann man nun hören die Erzählungen deutscher Männer, wie diese Begebenheiten vor sich gegangen sind, und zwar von etlichen, die in Soest geboren sind, wo diese Ereignisse sich zugetragen haben, und die manchen Tag die Stätten noch unzerstört gesehen haben, wo diese Begebnisse sich ereigneten: wo Hǫgni (→Hagen) fiel oder Irung erschlagen ward, oder den Schlangenturm, in dem König Gunnar (→Gunther) den Tod fand, und den Garten, der noch Niflungengarten genannt wird. Und es steht alles noch auf dieselbe Weise, wie es damals war, als die Niflungen erschlagen wurden; auch die Tore: das östliche Tor, wo zuerst der Kampf sich erhob, und das westliche Tor, das Hǫgnis Tor genannt wird, das die Niflungen in den Garten brachen; das wird noch alles auf dieselbe Weise benannt, wie es damals geschah. Auch solche Männer haben uns davon gesagt, die in Bremen und Münsterburg geboren sind. Keiner wusste mit Gewissheit vom Andern, doch sagten Alle auf dieselbe Weise davon. Auch entspricht das meist dem, was alte Lieder in deutscher Zunge sagen, welche weise Männer gedichtet haben über die großen Begebenheiten, die sich in diesem Lande zutrugen.«
Þiðreks saga.
Nicht wenige mittelalterliche Überlieferungen berichten über die Nibelungen. Heerscharen von anerkannten und selbsternannten Nibelungenexperten haben sich um den historischen Kern dieser Erzählungen bemüht. Sie mussten jedoch bald feststellen, dass sie mit einer nicht einfachen Entwirrung von „Dichtung über Dichtung“ zu tun hatten.

Gleichwohl scheinen nur wenige Forscher mit besonders bemerkenswerten Forschungserkenntissen zur transparenten Entflechtung der Sage beigetragen zu haben:

Der Münchener Studienprofessor Aloys Schröfl hat zu Beginn der dreißiger Jahre des 20. Jahrhunderts mit seinen Veröffentlichungen über den Urdichter des Liedes von der Nibelunge Nôt und die Lösung der Nibelungenfrage einer überwiegend akademischem Leserschaft dargelegt, dass der erste Teil der oberdeutschen Reimdichtung über Sigfrids Leben und Tod nicht ohne Weiteres zum zweiten Teil von der Nibelunge(n) Nôt – also Grimhilds Rache und Untergang der Nibelungen im ‚Hunnenland’ –  aus einer inhaltlich zeitkohärenten Gesamtvorlage für das Reimepos passen können.

Nach Schröfls umfassendem und insbesondere Ottonische Geschichtsschreibung und Machtpolitik berücksichtigenden Indizienkatalog über auffällige (literar-)kulturelle Details, die im 10. Jahrhundert hohe Ausstrahlungskraft hatten, jedoch im 12./13. Jahrhundert bereits einen deutlich verminderten Stellenwert aufwiesen, soll das Nibelungenlied auf einer einst vom Passauer Bischof Pil(i)grim von Aribon initiierten Dichtung für den ungarischen Hof beruhen. Unter geschickter Inanspruchnahme bis in die Völkerwanderungszeit zurückreichender Ereignisse soll nach Schröfls Folgerungen diese frühe, jedoch als verschollen geltende Vorläuferin vom Heldenepos – als blattstarker politischer Flyer nach heutigem Verständnis – vor allem dazu verwendet oder geplant worden sein, die südosteuropäische Christianisierung durch seinen episkopalen Passauer Machteinfluss voranzubringen und abzusichern.

Später, offensichtlich in der Amtszeit des als literarischen Mäzenen bekannten Passauer Bischofs Wolfger von Erla, wurde der Quellenstoff dieser spannenden Überlieferung wiederbelebt und somit neu verfasst. In seiner viel gelobten hochmittelalterlichen Versform-Epik des frühen 13. Jahrhunderts begegnen nicht wenige literarkulturelle Details, die auf „aktuelle“ bzw. zeitgeistliche Stoffaneignung, -assimilation und -assemblierung zurückzuführen sind. Zur Hauptvorlage und hauptsächlichen Vermittlungsintention des in verschiedenen Fassungen („Redaktionen“) verfügbaren Nibelungenliedes bezieht sich Schröfl bei der Ergründung von Urheberschaft und Motivation auf die in dessen Klage-Handschrift(en) zwar explizit genannten, jedoch von der vorherrschenden fachwissenschaftlichen Auffassung ohne überzeugende Argumentation als vorausgegangene Urheber ausgeschlossenen Autoren Bischof Pilgrin von Pazzowe und seinem Meister (-Schreiber) Kuonrat. Beide Namen wurden bereits von Karl J. Simrock (Übertrager des Nibelungenliedes, siehe Vorwort 2. Aufl. 1868) mit der Blütezeit lateinischer Klosterdichtung und daraus hervorgegangenen literarischen Quellen in Verbindung gebracht.

Nach textkritischen Studien der wichtigsten Liedhandschriften aus dem 13. Jahrhundert, so über die erzählungstopografischen Darstellungen im Sinne einer „Ortssignatur“ des Dichters während Kriemhilds Fahrt zu „Etzel“ durch das heutige Niederösterreich, will der Journalist und Sagenforscher Walter Hansen (Die Spur des Sängers, 1987, S. 221f.) Konrad von Fußesbrunnen als den für Wolfger von Erla schreibenden Verfasser detektiert haben. Diesen Chuonrat von Fuozesbrunnen, bereits Urheber des über 3000 Verse umfassenden Reimepos' Die Kindheit Jesu sowie eines „weltlichen Werks“, erkennt auch der Literaturwissenschaftler Peter H. Andersen (Universität Straßburg) in seiner aktuellen literargeschichtlichen Nachlese als den wahrscheinlichsten Autor des zu Wolfgers Zeit geschriebenen Liedes: Nibelungenlied und Klage: eine niederösterreichische Doppeldichtung? in: Die Bedeutung der Rezeptionsliteratur für Bildung und Kultur der Frühen Neuzeit (1400–1750). Beiträge zur sechsten Arbeitstagung in St. Pölten (Mai 2019), S. 451–510.

Nach forschungswissenschaftlichen Erkenntnissen über die Nibelungen- und Dietrichdichtung muss aber auch zwischen archaischem Vorlagenmaterial und gezielt eingebrachten Motivstrukturen in den später weitgehend kopistisch angefertigten Handschriften bzw. „Redaktionen“ des hochmittelalterlichen Nibelungenliedes unterschieden werden.

Der 1994 verstorbene Germanist und Naturwissenschaftler Heinz Ritter aus Schaumburg an der Weser scheint nach dem Urteil nicht weniger Medienrezensenten in den historischen Sagenkern gedrungen zu sein. Nach jahrzehntelangem Studium und sorgfältigen Analysen von Quellenmaterial über den Stoffkreis der Nibelungen gelangte er zu den altnordischen Handschriften der Þiðreks saga. Deren Darstellungen können allerdings nicht über das historische Wirken des Ostgotenkönigs Theoderich d. Gr. berichten. Sie beziehen sich vielmehr, so Ritter-Schaumburg, auf biografische Schilderungen über einen gleichnamigen rheinfränkischen König der Völkerwanderungszeit.

Zum Überlieferungskomplex der Þiðreks saga zählen zum einen die in der Königlichen Bibliothek zu Stockholm aufbewahrte und in ihren Textausgaben mit jüngeren isländischen Handschriften vervollständigte Membran(e) [perg. fol.4] sowie zum anderen zwei altschwedische Handschriften der sog. Svava – so Ritter-Schaumburgs prägnanter Logismus durch begriffliche Übernahme jener quelltextlich häufig zitierten Region, die sich im ungefähren Zentrum des Erzählungsraums von Þiðreks saga und altschwedischer Dietrich-Chronik befindet. Wie er auch in seinem 1992 erschienenen Buch Sigfrid ohne Tarnkappe unterstellt, dürfte schriftliches Quellenmaterial für diese Textzeugnisse bereits in der Zeit von Karl dem Großen vorgelegen haben, der in seinen literarkulturellen Großvorhaben auch für umfangreiche bibliografische Bestandsaufnahmen gesorgt haben soll.

In dieser Veröffentlichung, worin jedoch nicht Grimhilds Rache und der Nibelungenuntergang behandelt wird, bemüht sich Ritter-Schaumburg um schlüssige topografische Zuordnungen der Ereignisse über das Leben und Sterben eines Sigfrids, dem er den vergleichsweise größten literarischen Anspruch auf historische Wahrscheinlichkeit einräumt.

Über die Bewertung der altnordischen Quelltexte

Ritter-Schaumburgs Stoffbehandlung der Þiðreks saga beruht im Grundsatz auf der (nicht durchweg leichten) Beantwortung der Kardinalfrage, ob eine Historia bzw. eine kunstvoll gestaltete hochmittelalterliche Geschichtsüberlieferung unter dem Licht mythologischer Erzählungen seziert werden darf (siehe auch Zitatbeitrag Ritter-Schaumburg über seinen Thidrekssaga-Forschungsgrundsatz mit seiner Position zur Hauptkritik). Wie er insbesondere in seinen Lesungen betont hat, mögen kontextuell eher wenig signifikante bzw. noch eingrenzbare zeitstilistische Einlässe eines mehrköpfig erwiesenen mittelalterlichen Schreibkollegiums der ältesten Handschrift der Þiðreks saga der frühen wissenschaftlichen Lehrmeinung durchaus leichtfertig nahe gelegt haben, diese mit einer niederdeutschen Vorlage wahrscheinlich zu machende Übertragung als ein grundsätzlich wenig authentisches Sammelbecken von überwiegend zusammenhanglosen Einzellegenden zu begreifen. Auch insoweit  sieht Ritter-Schaumburg die altnordischen/altisländischen Handschriften der Þiðreks saga im gemeinsamen inhaltlichen Fahrwasser mit der Quelle der „hauptrichtungweisenden Dietrich-Chronik“.

Gegen Ritter-Schaumburgs Erkenntnisse opponiert allerdings die enzyklopädische Auffassung und somit auch die universitäre Lehrmeinung. Deren einflussreicher Vertreter Heinrich Beck will die Botschaft der Þiðreks saga – entgegen dem Eindruck ihres „naiven Lesers“(!) – vielmehr in den Erkenntisbereich subtiler Darstellungen einordnen. Und er will die fundamentale Position der Germanistik zur vermeintlichen Unantastbarkeit der Überlieferungsform „Sage“ gegenüber Ritter-Schaumburg noch mit solchem Standpunkt verfestigen:

Die germanistische Sagenforschung hat längst erkannt (...), daß Sagentradition keine antiquarische Vermittlung ist, sondern jeweils einer aktuellen Aneignung entspringt.
(Quelle: Zur Thidrekssaga-Diskussion in: Zeitschrift für deutsche Philologie, 112, 1993; S. 441-448.)
Die 1989 von Ritter-Schaumburg vorgelegte Erstübersetzung der altschwedischen Didriks-Chronik oder der Svava ist in ihrer Übertragungsgenauigkeit nicht umstritten. Für die quellenkritische Geschichtswissenschaft liefert er zugleich eine intertextuelle Strukturanalyse zwischen den Handschriften der Membrane und der Svava. In diesem Diskurs (S. 399–455) hinterfragt Ritter-Schaumburg an nicht wenigen Beispielen die altwissenschaftliche Lehrmeinung über die Abhängigkeit der Svava von der Þiðreks saga bzw. deren Membrane. Auch in seinem posthum erschienenen Werk Der Schmied Weland analysiert und verdeutlicht er beispielhaft die unterschiedliche stilistische Veranlagung beider Überlieferungsvarianten, indem er die zur gestalterischen Subjektivität neigenden Tendenzen der altnordisch-isländischen Handschriften gegenüber den altschwedischen Quelltexten aufzeigt (vgl. Zitatauszug zur Handschriftenpriorität aus Der Schmied Weland). 

Im Umfeld der von Ritter-Schaumburg vorgenommenen Historizitätsbetrachtung der Þiðreks saga, hier also unter Berücksichtigung realitätsorientierter zeit- und raumrelevanter Rahmenbedingungen, wurde einer (überwiegend terminologisch verstandenen) Folgerichtigkeit der an ihren „Redaktionen“ entschlüsselten geografischen und ethnischen Zusammenhänge bislang ebenfalls kaum stichhaltig widersprochen. Bereits im Jahr 1959 hatte William J. Pfaff sein Buch über das gleiche Thema vorgestellt: The Geographical and Ethnic Names in the þiðriks Saga – A study in Germanic heroic Legend. Auch dessen Zuschreibung eines weniger glaubwürdigen ostgotischen Milieus für die Titelgestalt der Þiðreks saga führte – anhand von lehrwissenschaftlich eher undifferenziert herangezogener oberdeutscher Dichtung – jedoch zwangsläufig zu unplausiblen geostrategischen Zusammenhängen und Deutungen.


Die Nibelungen Herkunft

Die Svava und die Nibelungen, wie Ritter-Schaumburg in seinem 1981 herausgegebenen Buch Die Nibelungen zogen nordwärts darlegt und schlussfolgert, haben wesentlich

andere Handlungsrahmen und Ortsbezüge als die traditionelle Nibelungenüberlieferung nach dem Nibelungenlied. Herkunftsort und Namensgebung der Nibelungen sollen sich nach den Erkenntnissen des Bestsellerautors auf ein Gewässer in der Voreifel beziehen: Die dieses Gebiet in nordöstliche Richtung durchkreuzende Neffel*, unterstellte Namenspatin der Niflungen, entspringt in der Nähe von Zülpich. 

Zülpich: Weihertor (Verfasserfoto). Ritter-Schaumburg und die ihm folgende kritische Forschung lokalisieren den handschriftlich überlieferten Nibelungensitz Verniza, Vernica an den bis in die römische Zeit zurückreichenden Verkehrsknotenpunkt der Heeresstraßen Köln–Trier und Köln–Reims. 

Damit folgt Ritter-Schaumburg der Erkenntnis des Althistorikers Franz Joseph Mone, der aus dem Nibelungenlied vielmehr eine nach Ungarn verlegte Etzelburg schließt. Mones namenkundliche Untersuchungen zur wahrscheinlichsten historischen Ursprungsregion der Nibelungen konzentrieren sich insbesondere auf die Neffel sowie den Bereich um Neuss, das der Frankenhistoriograf Gregor von Tours als Nivisium überliefert hat. Das im Süden von Neuss gelegene Nievenheim wurde im 8. Jahrhundert als pago Nivan-heim niedergeschrieben und könnte somit auch – im Verbund mit anderen im Eifelumfeld möglichen Identifikationen – ein weiteres etymologisches Lokalitätsrelikt darstellen. (F. J. Mone: Untersuchungen zur Geschichte der teutschen Heldensage, 1836, S. 30f.)

Mone hatte jedoch längst vor Ritter mit der Neffel und den an ihrem Lauf liegenden Orten Zülpich und Guntirsdorp auf die Niflungenregion hingewiesen und er erwähnt dazu außerdem den ca. 35 km nördlich von Zülpich entspringenden Gillbach, früher: Gilibach, im mittelalterlich beurkundeten Gebiet Giliovi pagus, pago Gilegoui bzw. „die Gilbach“ – vgl. dazu (oder dagegen) den Namen des mhd. überlieferten Nibelungenstammvaters Gibich (lat. Gibica). An diese Namen- bzw. Lautform angehängte „-stein“-Endungen lassen sich auffälligerweise erheblich nördlich vom oberrheinischen Worms lokalisieren, so Jakob Grimm über verschiedentlich vergebene Reminiszenzen mit Gibichenstein (Zeitschrift für deutsches Alterthum, 1. Bd., 1841, S. 572–575).

Nach Mone brachte der Philologe Henri Grégoire die nibelungische Ursprungsregion mit dem belgischen Ort Nivelle (Burg und Stadt) in Verbindung. In dortigen Chroniken taucht z. B. Nivellung aus der Beinamengebung an die Pippiniden auf, so wie man auch auf jenen Nibelunc in der Namengebung für einen Pippiniden des 8. Jahrhunderts trifft, den Karl der Große als seinen Oheim bezeichnet haben soll. Trotz eigener offensichtlich zu gewagter Thesen (Burgunderverortung) bezieht sich Grégoire auf manche Anregung zum Nibelungenursprung, die bereits Emil Rückert geliefert hat. (Titel seiner 1836 erschienenen Veröffentlichung: Oberon von Mons und die Pipine von Nivella – Untersuchungen über den Ursprung der Nibelungensage.) Allerdings räumen Ritter-Schaumburg und der seinerzeit u.a. als Verlagslektor tätige Walter Böckmann († 2014) nicht nur diesem Nivelle, sondern auch jenem Waremme bzw. Borg-Worm, das als Sitz des Niflungenkönigs Gunnar (mittelhochdeutsch: Gunther) vermutet wurde, kaum Chancen auf historische Authentizität ein, siehe Walter Böckmann: Der Nibelungen Tod in Soest – Neue Erkenntnisse zur historischen Wahrheit, vgl. S.106 f.

Anm.: Böckmann war als Verlagslektor für Ritter-Schaumburg tätig gewesen, der sein Manuskript für Die Nibelungen zogen nordwärts zuerst dem Econ-Verlag anvertraut hatte. Wie die Westfalenspiegel-Autorin Ursula Heyn in ihrem Beitrag Schlacht auf dem Buchmarkt, Sept. 1981, weiter berichtet, soll Ritter die Zusammenarbeit mit Econ bzw. Böckmann aufgekündigt haben, als der Verlag an ihn (Ritter) lediglich Zweitautor-Ansprüche auf eine Buchfassung stellte, die letztlich nicht mehr seinen Vorstellungen entsprochen hatte.

Gegenüber Nivelle wird man vielmehr die von Mone fokussierten Ortsnamen im Raum Zülpich–Neuss zur Lokalisierung des ursprünglichen Nibelungensitzes favorisieren können. Hier begegnet eine hervorstechende Zahl von Orten, deren Namen anhand der Originaltextaussagen jener altnordischen Überlieferungen nachdenklich stimmen. So beispielsweise Juntersdorf, das frühere Guntirsdorp. Mit dem in der altschwedischen Handschrift A zu Grimhild und Gernholt (vgl. Gernot)  mütterlicherseits genannten Großvater König Yrian (‚Irian’) trifft man auf eine Entsprechung Iriniacum, das Heribert van der Broeck mit seiner Veröffentlichung 2000 Jahre Zülpich (Kölnische Verlagsdruckerei 1968) als Sitz eines Kelten Irinus identifiziert. Der Vater von ‚Gunters’ Halbbruder ‚Hagen’ wird handschriftlich als Elff (Albe) bezeichnet – hierbei drängt sich ein nur wenige Kilometer entferntes Elvenich auf, das früher als Albinacum und Albihenae bezeugt wurde und van der Broeck einer keltischen Kultstätte zuordnet. (Die in dieser Region typischen (n)ich-Endungen weisen auf römisch-keltischen Spracheinfluss hin.) Und schließlich findet man hier auch Burg Irnich sowie die Orte Vernich, Virnich (zu Schwerfen) und Virmenich (jetzt Firmenich), die an Quelltextbezeichnungen wie Vernica, Verniza oder Vermintza für den Nibelungensitz erinnern. 

Überdies findet Ritter-Schaumburg ein weiteres und hierzu offenbar evident zusammenhängendes Indiz für den Zülpicher Raum als Herkunftsregion der „historischen Nibelungen“, nämlich die quelltextliche Anmerkung, dass gerade (noch) hellster Vollmond ist, als das Volk den Rheinübergang auf seinem schicksalhaften Zug zu Grimhild bei König At(t)ala (eine Schreibweise der isländischen Handschrift B, sonst „Attila“, altschw. Aktilius, Atilius) im Hunaland („Hünenland“, nicht „Hunnenland“!) erreicht hat: Weil nach den Erkenntnissen unserer Geschichtsforschung in der Spätantike wie auch noch im Mittelalter der Beginn wichtiger Unternehmungen üblicherweise auf Vollmond gelegt wurde, konnten die von der kritischen Sagenforschung spezifizierten Nibelungen mit blanken Brünnen unter ihren Röcken augenscheinlich nicht mehr als eine solche Distanz bis zum Rheinfährenort zurückgelegt haben!

Die nach Ritter-Schaumburgs Zeit- und Raumlokalisationen zu den fränkischen Völkern zählenden Nibelungen treten um die Wende des ersten halben Jahrtausendes auf. Auch das dem 9. oder 10. Jahrhundert zugeschriebene und somit gegenüber dem Nibelungenlied deutlich ältere Reimepos Waltharius bezeichnet die Nibelungenbrüder Gunther und Hagen als Franken. Diese raumzeitliche Angabe aus der Feder eines vielmehr oberdeutschen Verfassers mag durchaus einer „aktuellen Aneignung“ entspringen.

Nach der Frühgeschichte der Pippiniden könnten auch stemmatologische Indizien aus der Karolinger-Dynastie eine Rolle spielen:

1. Die später auftretenden Pippiniden verfügen in der Tat über bemerkenswerte Besitztümer im Zülpicher Raum: Beispielsweise wurde eine ehemalige Kirche zu Juntersdorf (Guntirsdorp) einer Gertrud von Nivelles als Patronin der Pippiniden gewidmet. 
2. Hagens Sohn Aldrian, nach der Svava und Membrane der einzige bekannte lang lebende Nachfahre der bei König At(t)ala untergegangenen Nibelungen, wird als Nachfolger von deren Reich erwähnt. Er könnte also als Vorfahre der Pippiniden bzw. Karl des Großen in Erwägung gezogen werden. 
3. Der Verlauf der Westgrenze des Nibelungenreiches wird nicht überliefert. Nichtsdestoweniger wäre Sigfrid, Aldrians erschlagener Onkel, als Erbe von mütterlicherseitigem Familienbesitz auf linksrheinischem Gebiet zu berücksichtigen. 
Ausblick von der Neffel in Juntersdorf.
Virnich.
Bildquelle Fotos
: Verfasser.
Burg Irnich in Schwerfen bei Virnich.
Burg Virmenich.

Die Svava und Membrane zitieren den Aufbruch der Nibelungen zu ihrem letzten Ausmarsch in diesem Wortlaut:

So ritten sie zum Rhein, dort wo Duna und Rhein zusammenkommen...
(Die Membrane schreibt: Die Niflungen fuhren nun all ihre Straße, bis dass sie an den Rhein kamen, da wo die Duna und der Rhein zusammen kommen ...)

Unter Duna soll nun keineswegs die Donau verstanden werden (die ohnehin nicht in den Rhein fließt), sondern die Dhünn, die bis 1830/1840 als Dune bei Leverkusen in den Rhein mündete und auch als Duone 1117 urkundlich genannt wird. Ihr heute nur wenig weiter stromabwärts zu findender Mündungsbereich wurde von H. Ritter-Schaumburg als seinerzeit strategisch wichtiger Übergangspunkt belegt.

Die Niflungen zogen dann zu Markgraf Rodingers Sitz. Gleich südlich der Dhünntalsperre befand sich eine frühmittelalterlich nachgewiesene Siedlung bei Bechen. Ein Bekelar oder Bechelar – namensgebend soll die dort einst fließende Beche gewesen sein – ergibt sich mit der Endung „lar“ in bevorzugter Bedeutung für ein zumeist gewässerbezogenes oder sumpfiges Waldgebiet. Die andere lokale Bezeichnung dieser altsprachlichen Endung bezieht sich auf einen abgegrenzten Bereich. Dieses Beche, so der mittelalterliche Ortsname, hatte einen besonderen strategischen Stellenwert, denn hier befand sich eine Wegsperre, eine Grenzmarke in Form einer Landwehr auf dem alten Heerweg von Köln über Wipperfürth nach Soest. Man vergleiche dazu die aus dem Nibelungenlied als literarisch originär propagierte Ableitung von (lat.) Praeclara für Pöchlarn zu Bechelâren an der Donau. Der germanistische und skandinavistische Mediävist Andreas Heusler erkannte in der Þiðreks saga (bzw. deren Quellenmaterial) eine Vorstufe des Nibelungenlieds, vgl. Hans Peter Wapnewski, Deutsche Literatur des Mittelalters. Ein Abriß. Göttingen 1960, S. 71.

Die zu revidierende altphilologische Betrachtung der ‚historischen Nibelungen’ teilt im Großen und Ganzen auch der Historiker Ernst F. Jung mit seiner analytischen Nachbetrachtung von Ritter-Schaumburgs Thesen und Beisteuerung weiterer interessanter Forschungsimpulse – so auch über die topologische Neuerkundung der Edda-/Gudrunlieder – in der Publikation Der Nibelungen Zug durchs Bergische Land. Bereits 1961 fand die Literaturwissenschaftlerin Roswitha Wisniewski bislang unwiderlegte Anhaltspunkte, dass in der ersten Hälfte des 13. Jahrhunderts eine Art ‚Chronik über König Dietrich von Bern’ aus dem westfälischen Kloster Wedinghausen bei Arnsberg (→ ‚Wadhincúsan’) nach Skandinavien/Norwegen gebracht, dort nacherzählend übertragen und als Þiðreks saga betitelt wurde, wie die Autorin dies in ihrer Habilitationsschrift Die Darstellung des Niflungenuntergangs in der Þiðreks saga näher ausführt. (Chronistische bzw. historiografische Überlieferungen wurden im Altnordischen als ‚saga’ kategorisiert. Über das Kloster ‚Wadhincúsan’ siehe auch den Verfasserbeitrag Wadhincúsan, monasterium Ludewici.)

Soest von Merian.


Die Svava über Sigfrid (‚Sigord’) und die Niflungen

Eine kurze Zusammenfassung

Unter der geografischen „Svava“ soll der Ostharzgebiete einschließende Siedlungsraum der nördlichen Sueven bzw. Sueben in der Völkerwanderungszeit verstanden werden.
 
Sigfrids Vater Sigmund ist König von Tarlunga, dem niederdeutschen Darlingau (‚Derlingau’), in dessen nördlichem Bereich sich heute die Stadt Wolfsburg befindet. 

Sigmund heiratet Sissibe, Tochter von König Nidung im Haspengau, dem heutigen Hesbaye zwischen Namur und Maastricht. Der Tarlunga-Herrscher erhält als Mitgift das halbe Reich von Nidung. Sissibe wird nur kurze Zeit später Opfer einer Machtintrige der Edelleute Hartwen und Herman, die der in den Krieg ziehende Sigmund als seine Stellvertreter ernannt hat. Hartwin will sich Tarlunga mit Sissibe einverleiben, die sich jedoch beharrlich weigert. Die Edelmänner täuschen ihrem zurückkehrenden König die Untreue seiner Gemahlin vor und setzen, nachdem er in tiefer Betroffenheit seine Zustimmung gab, Sissibe an einem Fluss im Harzwald aus, wo sie Sigfrid (altschwedisch Sigord Swen)1 zur Welt bringt. Hartwin will dort Sissibe durch Herausschneiden ihrer Zunge für immer zum Schweigen bringen. Herman kann dies zwar durch die Enthauptung seines Komplizen vereiteln, doch während ihres Kampfes wurde das in einem Glasgefäß gebettete Kind von Hartwins Fuß in den Fluss gestoßen und fortgespült. Sissibe, durch die Vorereignisse bereits mental und körperlich geschwächt, erleidet hierdurch einen Schock und stirbt.

Die mit Motiven aus der fränkischen Genoveva-Legende, der biblischen Überlieferung von der Geburt Moses sowie auch der Sage von Romulus und Remus angereicherte Erzählung fährt fort, dass das Kind von einer Hirschkuh gefunden und gesäugt worden sei.

Der anscheinend kinderlose Schmied Mime (Mymmer)2 zieht Sigfrid auf.

Das aufbrausende Wesen des jungen Sigfrid scheint auch auf Frustration durch den „goldenen Käfig“ zu beruhen, den sein Adoptivvater für ihn geschaffen hat. Schließlich reagiert sich sein Zögling in der Schmiede durch Zusammenschlagen von Mimes Vorarbeiter ab. Der enttäuschte Schmied muss aber auch erkennen, dass aus seinem auffallend kräftigen Ziehsohn wohl niemals ein guter Schmied werden wird. Außerdem scheint Mimes Kundin Königin Brünhild (altschwedisch Brynilla, Brynilda) Sigfrids Aufmerksamkeit zu erregen. Mime muss letztlich einsehen, dass er Sigfrid nicht länger halten kann, will ihn aber lieber tot als verloren sehen. Der verschlagene Schmied schickt ihn deswegen zum Köhlern in die Gegend von Regen3, der sowohl sein Bruder als auch ein Menschen tötender Lindwurm sein soll.

Sigfrid trifft Regen im Wald und tötet ihn. [Er gibt (damit) an, dass ihm Regens blutiger Drachensud4 nicht nur eine unverwundbare Hornhaut machen, sondern auch seinen Sinn für das Verstehen der Vogelsprache schärfen konnte.]

Sigfrid bringt das sonderbare Haupt von Regen zu Mime und befiehlt ihm, es abzunagen. Mime fürchtet sehr um die Rache Sigfrids. Er schenkt ihm deswegen seine für einen König geschmiedete prächtige Rüstung, sein bestes Schwert Gram(er), und verspricht ihm noch den Hengst Grane aus dem Gestüt der Königin und Jungfrau Brünhild.

Sigfrid lässt sich von Mime die Rüstung anlegen und das Schwert überreichen, mit dem er gleich darauf seinen Pflegevater erschlägt.

Danach dringt er in Brünhilds Schloss ein, um sich den Hengst zu holen.5 Nachdem er sieben ihrer Torwächter tötete und sich sodann mit ihren Rittern und Knappen herum rauft, gebietet die vom Eindringling dennoch beeindruckte Schlossherrin Einhalt. Sie lässt nach dem Hengst schicken und erklärt Sigfrid seine wahre Herkunft.

Sigfrid zieht mit Grane nach Bertanga (so schreibt eine isländische Handschrift den niederdeutschen Bardengau), dem heutigen westlichen Elbegebiet zwischen Hamburg und Wittingen, um dort König Isung zu dienen. Dieser erlaubt Sigfrid, sein eigenes Schildbanner zu tragen, das einen Drachen (halb in rot und halb in braun) auf rotem Grund führt.

Dietrich, König von Bern,6 hört von Sigfrids Kampfkraft und Heldentaten und ist fest entschlossen, sich mit ihm zu messen. Zu „Didriks“ Gefolgsmännern nach Bertanga zählen unter anderen auch Gunter (in den Handschriften Gunnar), König der Nyfflinge/Niflungen und sein Bruder Gernholt, beide leibliche Söhne von König Irung (Mb 2), sowie deren Halbbruder Hagen (altnord. Hǫgni)7. König Dietrich folgt auch Heim der Großmütige bzw. der Grimmige. Das blaue Schild dieses Verwandten von Brünhild zeigt einen Hengst. Unter Dietrichs Kämpfern befinden sich auch Hornboge und sein Sohn Amling (Amlung). Mit ihnen wähnt sich Sigfrid in verwandtschaftlichem Verhältnis. WidekeWelands Sohn, besitzt das legendäre (weil seinerzeit härteste) Schwert Mimming (Mimung). Sigfrids ungestümes Temperament hatte den ebenfalls bei Mime lernenden Weland, Schmied des Mimung, in die Flucht getrieben.

Dietrich kampiert in Sichtweite vor Isungs Schloss8. Als schlichter Reiter verkleidet kundschaftet Sigfrid die Ankömmlinge aus und fordert für seinen König eine angemessene Schatzung. Er erhält nach Auslosung durch Würfeln Ross und Schild von Amlung. Dieser reitet jedoch kurze Zeit später mit Widekes Schimmel dem kecken heimischen Kundschafter nach, um sich sein Pferd um jeden Preis zurückzuholen. Amlung wird aber von Sigfrid besiegt als sich beide im Wald begegnen. Weil Sigfrid Amlungs Vater als guten Verwandten in Erinnerung hat, gibt er sich zu erkennen und das Pferd zurück. Auch Wideke hatte Sigfrid erkannt. Beide verraten ihn aber nicht an den rheinfränkischen König.

König Isung stimmt einem Turnierkampf mit seinen elf Söhnen und Sigfrid zu. An den beiden ersten Wettkampftagen kann König Dietrich mit seinem Schwert seinen Gegner Sigfrid nicht besiegen. Deswegen verlangt er von Wideke den Mimung. Dem Gebrauch dieses Schwertes schwört der König vor Sigfrid zu Beginn des darauffolgenden Tages zwar ab, benutzt es aber dennoch.

Nachdem er Sigfrid fünf Wunden mit Mimung beigebracht hat, erkennt der Angeschlagene die arglistige Täuschung und gibt auf. Des Eidbruchs von Dietrich zum Trotz tritt Sigfrid auf freien Wunsch dennoch in den Dienst des rheinfränkischen Herrschers.

Sigfrid heiratet auf Fürsprache von König Dietrich Grimhild (in den altschwedischen Texten zumeist Crimilla) und erhält, wie von ihm versprochen, das halbe Niflungenreich.9

Der Jungvermählte bietet sich als Brautwerber für eine Verbindung zwischen König Gunter und Brünhild an. Diese Vermittlung ist insoweit eine delikate Angelegenheit, als Sigfrid bereits vor seiner Heirat Brünhild die Treue schwur und sie ihn nun wissen lässt, was sein Bruch des Liebesschwurs für sie bedeutet!

Die königliche Heirat von Gunter und Jungfrau Brünhild kommt zustande. Allerdings verweigert sie sich in allen Nächten stets erfolgreich. Sigfrid vertraut hierüber seinem Rat und Hilfe suchenden Schwager an, dass Brünhilds körperliche Überlegenheit sicher nach ihrer ersten Berührung gebrochen wäre.

Wie auch das Nibelungenlied nacherzählt, überlässt hierzu Gunter in enger familiärer Verbundenheit mit seinem Schwager eben diesem das Weitere. Allerdings wird Brünhild sich Sigfrid keineswegs verweigern!

Später entdeckt Grimhild Sigfrids Trophäe von dieser Liebesnacht: Brünhilds Ring. Der hierdurch hervorgerufene Streit und abgrundtiefe Hass zwischen beiden Frauen findet in Sigfrids Erschlagung durch Hagens Speer jenes vorläufige tragische Ende, an dem Grimhild noch ihre verheerende Rache anknüpfen wird.

Sie heiratet den aus Friesland stammenden und im heutigen Westfalen residierenden König Aktilius („At(t)ala“), und lockt nach sieben Jahren ihre Brüder zum Sitz ihres Gemahls. Dieser ist das westfälische Susa, damaliges Zentrum des „Hünenlands“ (auch Hymaland in den altschw. Texten).

Gunter will trotz ernster Bedenken von Hagen und der Königinmutter die Gelegenheit nutzen, das Reich seines angeblich schwachen Schwagers zu übernehmen. Schließlich ziehen die Nibelungen wohlbewaffnet mit einer Tausendschaft aus. Sie gelangen auf ihrer Marschroute an eine Stelle, wo Duna („dwna“) und Rhein zusammenkommen. Dort, an einem nahe gelegenen Rheingewässer, trifft Hagen zwei Wahrsagerinnen. Er erschlägt diese nach einem trivialen Streit über ihre düstere Weissagung über das Schicksal der Nibelungen, wie auch kurz darauf den Fährmann bei der Rheinüberquerung an der Dunamündung. Von dort begeben sich die Nibelungen in einem halben Tagesritt zunächst nach Bakalar (altschw. Becculær, Pæclar) dem Sitz von Markgraf Rodinger (altschw. Rodgerd) im Bergisch Gladbacher Raum. Nach den altnordischen Texten ziehen sie dann an Thorta (Dortmund) vorbei nach Susa(t): dem westfälischen Soest. Dort werden sie in harten Kämpfen gegen das Volk des Gastgebers ihr Ende finden.

Beim Gastmahl gewinnt Grimhild ihren gemeinsamen jungen Sohn Aldrian für eine Mutprobe mit Hagen, an dem er einen kräftigen Kinnschlag probiert. Der gereizte Nibelunge versteht diesen Spaß jedoch überhaupt nicht und enthauptet wutentbrannt sowohl den Jungen als auch seinen Erzieher. Hierauf folgt unmittelbar Atalas Aufruf, alle Niflungen zu erschlagen.

Gunter muss sich bereits am ersten Kampftag den Männern von Herzog Osid, einem Neffen von Atala, ergeben und wird – wohl unweit der sog. Irungsmauer – in den Schlangenturm10 geworfen, worin er wenig später stirbt. Grimhild tötet ihren bereits sterbenden Bruder Gislher (altschw. Gyntar), indem sie einen brennenden Scheit in seine Kehle stößt. So hat sie zuvor auch mit ihrem Bruder Gernholt verfahren, obwohl dieser von Didriks Gefolgsmann Hildebrand (Hillebrand) längst getötet worden war.

Nachdem etwa 4000 Kämpfer aus dem Hunaland gefallen sind, wird Grimhild auf Atalas Bitten durch Dietrich erschlagen. Ihm hatte sich bereits Hagen ergeben, der Grimhilds ergebenen Gefolgsmann Ritter Irung im Zweikampf tötete und wegen dabei erlittener schwerer Verwundungen zum Sterben bestimmt war. Unter Dietrichs Fürsorge zeugt er noch in der Nacht vor seinem Tod einen Sohn mit seiner Pflegerin und übergibt der zukünftigen Mutter des vorhergesagten und schließlich Aldrian genannten Kindes den Schlüssel zu Sigfrids Schatzkammer.

Noch in jungem Alter, mit etwa zwölf Jahren, lockt Hagens Sohn seinen nicht mehr jungen Ziehvater König Atala zu diesem Hort und schließt ihn darin für immer ein. Dann meldet Aldrian Brünhild seine Rache der Niflungen, wird von ihr großzügig belohnt und wenig später ein guter König.

Der geheim gehaltene Niflungen- bzw. Nibelungenhort11 soll seitdem nie mehr betreten worden sein. Allerdings wird er sich in einer weniger großen Entfernung von Atalas Sitz befunden haben müssen.12



Anmerkungen – Fragen & Erkenntnisse
Nordharz-Karte von 1968

* Neffel - Niflung

Laut Wikipedia („Neffelbach“, abgerufen 26.07.2012) leitet sich der Name dieses Gewässers vom rheinischen Nevvel = Nebel ab, „da die Ufer des Bachlaufs häufig morgens im Nebel liegen.“ Eine in dieser Quellenregion verwurzelte Sage berichtet über zwei vermögende unterirdische Zwergenherrscher Niff und Neifel. Dazu liefert das Nibelungenlied eine mehr oder weniger treffliche Anspielung mit zwei Zwergen namens Nibelung. Es heißt dort, dass der eine als Vater seinem gleichnamigen Sohn wie auch dessen Bruder Schilbung – zu ihm die unferne Schievelsheide als Namenspatin? – einen immensen und später von Siegfried erbeuteten Schatz hinterlassen hatte. Übrigens ist in der 350. Strophe des Nibelungenliedes anstelle von ‚Tarnkappe’ von einer ‚Nebelkappe’ die Rede; – „ein jeder mochte drinnen thun nach seinem Muth“ (vgl. Simrock), womit sich noch eine weitere Andeutung dieser Neffelregion folgern ließe. Auch scheint nachvollziehbar, dass dichter Nebel vor allem kleineren Kreaturen als Tarnung dienen kann. (Durch den oder die Verfasser der älteren oberdeutschen Waltharius-Dichtung wurde den Nibelungen–Niflungen der Spitzname Franci nebulones verliehen.)

Eine nüchterne Ausgangsinterpretation oder schlichte „Enttarnung“ der Zwergenlegende von der Neffel basiert auf der frühgeschichtlichen bzw. hier bereits römerzeitlich belegten Erzverarbeitung, wozu offenbar durchweg oder zumindest vorzugsweise kleinwüchsige Menschen im Abbau „unter Tage“ bzw. „in der Höhle“ eingesetzt wurden. Und dabei mögen sie von jenen gleich großen Individuen befehligt worden sein, die das weiterverarbeitende Eisen- und Kunstschmiedehandwerk Gewinn bringend beherrschten.

Die Namensherkunft bzw. Grundbedeutung von Wortformen, die mit nifl- beginnen, verbindet Jan de Vries (Verfasser des Altnordischen etymologischen Wörterbuches) trefflicherweise sowohl mit dunkel (vgl. „Höhle – Erzabbau“) als auch neb(e)lig.

Gegenüber Heinz Ritter-Schaumburgs Verortung von Sigfrids Schmiedeaufenthalt, seinem „Drachenkampf“ und seiner Schatzaneignung (siehe auch nachfolgende Anmerkungen 2 bis 3) scheinen der Neffelraum wie auch die Orte Rheinbach – einst beurkundet als „Reginsbach“ – und Wormersdorf an erzählungsarchaischem Hintergrund zu gewinnen.

  1  Sigfrid

Aus den unterschiedlichen Schreibweisen in den altschwedischen Texten geht er als Sigord hervor. Auf älteren Karten vom Nordharz findet man noch die Wüstung Siewershausen (siehe X- Markierung auf der oben angegebenen Karte), die laut alten Archivkarten ursprünglich Sigefrideshuson hieß. Heinz Ritter-Schaumburg hat hier Vermutungen über den Geburts-, Fund- oder Gedenkort von Sigfrid angestellt.
 
Wüstung Siewershausen mit Blick nach SO.
Bildquelle beider Fotos: Verfasser.
Minsleben – „Mynnersleben“ an der Holtemme,
mit Blick nach S. auf das „Nordgebirge“.

Sigfrids Körpergröße

Mime hat gerade eine königliche Rüstung fertig geschmiedet, legt diese Sigfrid an – und sie passt! Immerhin steht ihm diese offenbar so gut, dass er sie für seinen Marsch zu Brunhilds Residenz gleich anbehält, wo er – im unterstellten Knabenalter – wohl kaum sieben Torwächter erschlagen und sich noch mit Rittern und Knappen der Königin anlegen konnte. Wie hoch ist die Wahrscheinlichkeit, dass sowohl der königliche Auftraggeber als auch Sigfrid nun ausgerechnet die gleiche Größe eines ausgesprochenen Riesen besitzen? Dagegen spricht die enorm beeindruckende Größenbeschreibung von Sigfrid, die Meister Brand in der offenbar feuchtfröhlichen Runde von König Didriks Mannen abgibt, „Gastmahl“ (Sv 177, 178). Dürften diese Angaben auf jugendlicher Protzerei sich weit überschätzender Prahlhänse beruhen? Tatsächlich fahren diese Kampfgesellen nach beschlossenem Kräftemessen bei König Isung mit einem blamablen Mann-Gegen-Mann-Ergebnis nach Hause: Von zwölf Kämpfen konnten sie nur drei Siege für sich entscheiden, die übrigens weder von Hagen noch von Gunter mit errungen wurden – Didriks Kampf gegen Sigfrid wegen arglistiger Täuschung durch Eidbruch nicht mit gerechnet. 

2  Mime

Mime war sicherlich nicht irgendein Schmied, der es nötig hatte, gewöhnliche Arbeiten für die Dorfbevölkerung zu verrichten. Anscheinend wussten von seinem Handwerk auch Herrscher in ferneren Gefilden.

Mime schirmt seinen Zögling offenbar gut ab, lässt ihn zunächst nicht unter seinen Schmieden mitarbeiten. Nichtsdestoweniger scheint der jugendliche Sigfrid ihm dies mit frustriertem Herumlungern danken, und er steckt dabei gelegentlich seine Nase in die Schmiedewerkstatt seines Pflegevaters, um dort dessen Gesellen mächtig zu enervieren und zu verprügeln. Erst als der stark Pubertierende kaum mehr zu bändigen ist, will ihm Mime das Arbeiten in seiner Schmiede lehren!

Nach frühen urkundlichen Bezeugungen ist der nur wenige Kilometer von Siewershausen entfernte Ort Minsleben nicht nur eine der ältesten Siedlungen dieser Region, sondern auch eng mit frühzeitlicher Schmiedetätigkeit verbunden. Buchautor Ritter-Schaumburg war Zeuge von Ausgrabungen und Analysen von früh datierbaren Eisenschlackeresten aus diesem Ort. Zu dessen Namensgebung sind sowohl die später hinzugefügten thüringischen Endungen -leva, -leven anzumerken als auch der handschriftliche Name von Mime, Mymmer oder auch Mynner.

Im altnordischen Überlieferungskomplex der älteren Edda ist der Schmied Mime als Regin(n) zu identifizieren. Wie schließlich aus der Vǫlsunga saga hervorgeht, beauftragt Hjalprek den Schmied Regin, für den noch jungen Sigurð zu sorgen. Für Herrschergestalt dieses Hjalprek, wie er auch mit angelsächsischen Feldzügen in Verbindung gebracht wurde, scheint dessen namentliche Übertragung wie auch das raumzeitgeschichtliche Umfeld am ehesten auf den salischen Frankenkönig Childerich I. hinzuweisen. Nach den Überlieferungen über den ersten merowingischen Childerich, siehe dazu die Berichte des fränkischen Geschichtsschreibers Gregor von Tours, könnte sich Regins bzw. Mimes Schmiede in salfränkischen bis thüringischen wie aber auch weiter nord(öst)licheren Bereichen befunden haben. Heldenpoetische wie auch historiografische Überlieferungen legen Hjalpreks bzw. Childerichs Einfluss und Wirken in diesen weitläufigen Regionen nahe.

Mit einer von Ritter-Schaumburgs Verortung abweichenden und augenscheinlich näher an der oberdeutschen Nibelungendichtung orientierten Neulokalisation von Sigfrids Pflegevater und dem Drachen(h)ort befasst sich eine Deutung von Rudolf Patzwaldt: Liegt das „Rheingold“ in Rheinbach-Loch bei Bonn? http://www.wingarden.de/wing/germanen/art-nibelungen2.html (Abgerufen 11.05.2011.)  

3  Der Regenstein, Schauplatz nach Heinz Ritter-Schaumburg

Nur etwa elf Kilometer südöstlich von Minsleben erhebt sich der Regenstein als kleines Waldgebirge am nördlichen Fuß vom Harz, dessen Sandsteinfelsen sich steil in die Höhe erheben.

Das bewaldete Feuerland umschließt den Regenstein.
Bildquelle Foto: Verfasser.

Besonders beeindruckend sind die an seinem Fuß befindlichen Höhlen im sogenannten Feuerland, wo man alte Kultstätten (Thing-Rituale) vermutet.
 
Bildquelle beider 
Fotos: Verfasser.

Nur wenige Kilometer von diesem Nordharzer Sandsteingebirge entfernt befindet sich das überwiegend von Teichgewässern geprägte sumpfige Goldbachtal. Parzellen in diesem Gebiet werden in alten Flurkarten als Drachenkopf und Drachenloch bezeichnet. Noch heute werden diese Bezeichnungen von Forstaufsehern für das nunmehr in privater Hand befindliche Areal verwendet.
 
Ansichten vom ca.1/2 km langen Drachenloch.
Bildquelle beider Fotos: Verfasser.
  Der Verfasser dankt den Grundeigentümern für 
  Aufnahmeerlaubnis und Bildfreigabe.

War Regen ein später solitärer Protozoon oder ein Graf am Regenstein?

Für die erstgenannte Möglichkeit mag ein idealer Lebensraum vorhanden gewesen sein. Zwar sprechen die altnordischen und altschwedischen Überlieferungen von einem Regen als Bruder von Mime, doch könnte es sich hierbei ebenso gut nur um eine geistige Bruderschaft handeln: Besaß Mime, wie Sigfrid zu spüren bekommen sollte, jene Verschlagenheit und Hinterlist eines Reptils?

Nun hätte aber auch jener weiter unten zitierte residenzlose Emporkömmling Hatebold, der als erster und wohl (noch) nicht vermögender „Graf von Regenstein“ das Areal um den großen Bergfels seit kurzer Zeit in seinem Besitz hatte, sich zum einfachen wie besonderen Schutz desselben dem wahrlich Furcht einflößenden Umfeld rings um seine Residenz bedienen und – zu seiner wichtigsten Vervollständigung – für alle ungebetenen Gäste „einen Drachen bauen können“. Für eine solche sicher auch zum Ausrauben geeignete Maskerade sprechen vielmehr einige indirekte Anspielungen (vgl. Zitate Sv 158), denn in den Handschriften ist auch vom Goldschatz die Rede (Sv 304), den der kecke Sigfrid dem „Drachen“ abgenommen haben soll. Die nach den vorliegenden Überlieferungen hauptsächlich aus den Überlieferungen der Edda abgeleitete Vǫlsunga saga will den wahren Sachverhalt über dieses nur scheinbar mythische Wesen klar erkannt haben und zitiert dessen enthüllende Aussage wie folgt:

»Hattest du nicht gehört, wie alles Volk sich fürchtete vor mir und meinem Schreckenshelm?«

Ein als Drache verkleideter Räuber, wie manche Autoren vermuten, hätte wohl kaum seinen Schlupfwinkel am Fuß oder irgendwo in der Nähe eines feudalherrschaftlichen Sitzes gesucht; und der mit seiner HighTec-Schmiede ein enormes Vermögen anhäufende misstrauische Mime hätte seine Schätze wohl kaum weder einem räuberischen Verwandten noch einem Fremden anvertraut, um sie neugierigen Blicken und allen Versuchungsgedanken seines fragwürdigen Personals weit genug zu entziehen. Wohl aber allenfalls seinem Bruder, den man, wie auch Mime, zur damaligen „VIP-Class“ der dortigen Region zählen durfte: Regen – Graf von Regenstein.

Tatsächlich scheint die Vǫlsunga saga näher auf die Motive von Mime (hier heißt er jedoch Regin) und dessen habgierigen Bruder (Fáfnir) einzugehen. So erklärt sich dieser gegenüber Sigfrid, der ihn zuvor tödlich verwundet hat:

»Den Schreckenshelm trug ich zum Schutz gegen alles Volk, seit dem ich auf dem Erbe meines Bruders lag... dass niemand noch mir zu nahen wagte; kein Schwert schreckte mich, und nie fand ich so viele Männer mir gegenüber, dass ich mich nicht weit stärker dünkte, alle aber hatten Angst vor mir... «

Der Regenstein mit seiner Burgruine am Nordharz, Merian 1654.

Die erste urkundliche Erwähnung von „Regenstein“ soll diese Erzählung begründen:

Im Jahre 479 zog Malvericus (Melverich), der König der Thüringer, mit seinem Heer über den Harz, um die Sachsen zu verdrängen. Beim Ort Vedekenstidde (Veckenstedt/Veckenstädt) wurden die Thüringer jedoch von den Sachsen geschlagen und mussten sich zurückziehen. Nach diesem Streit hielten die Sachsen einen Rat. Sie gaben einem im Kampfe ausgezeichneten Edelmann namens Hatebold aus dem Dorfe Veckenstädt ein Stück des noch wüsten Landes vor dem Harz, damit er sich dort eine Heimatstadt bauen sollte.
Er suchte sich also eine passende Stelle, kam an einen großen, steinernen Berg und rief aus: »Dieser Stein ist gereghent (richtig), darauf soll meine Wohnung sein!«
Er baute eine Burg und nannte sich fortan „Graf von Regenstein“.
 
 
Quelle: Sagen um den Regenstein, zusammengestellt und bearbeitet von Hans Bauernfeind, Helga Sorge, Hermann Wehr. Herausgeber: Schloßmuseum Blankenburg.
 
Für den betreffenden Zeitraum bestand also eine namentliche Bezugsoption auf Regen. Insoweit hätte übrigens auch ein an diesem Kleingebirge lebendes Reptil leicht nach dem Kurznamen des Gebietseigentümers benannt werden können. 
 

4  Drachensud an anderen Stellen

Die Svava relativiert selbst jene schier unglaubliche Unverwundbarkeit von Sigfrids Haut durch Schilderung seiner Verwundungen im Turnierkampf gegen König Dietrich, die ihn – trotz angelegter Rüstung – zur Aufgabe zwingen!

Wie historische Überlieferungen erkennen lassen, soll das fränkische Herrschergeschlecht der Merowinger mit einem der sogenannten „Ichthyosis Hystrix“ ähnelnden Symptom erblich vorbelastet gewesen sein. Die Erscheinungsformen dieser Hauterkrankung reichen bis zu einer Hautschwartenbildung wie bei Hausschweinen: Trefflicherweise wird Sigfrid in den altnorwegischen Überlieferungen Sigurð svein(n) genannt. Diese Apposition bezeichnet im Altnordischen jedoch auch einen flegelhaften Halbwüchsigen.

Mit seiner Fabel vom Drachentöter, durch angebliche Blutsud-Anwendung schließlich zum unverwundbaren Supermann glaubhaft gemacht, hätte Sigfrid also in höchst beeindruckender Weise seinem Erklärungsnotstand über seine auffällig dicke Hornhaut, verschiedentlich als „Ichthyose“ zitiert, ein Ende bereiten können!

Der isländische Abt Nikulás Bergsson (Bergþórsson) rezitiert Sigurðs Kampf auf der Gnitaheiðr gegen Fáfnir mehr oder weniger weit (südlich) von Horús, und zwar bei Kiliandr, wie er diese beiden Orte  in seinem um 1160 geschriebenen „Pilgerreiseführer“ Leiðarvísir og Borgarskipan zwischen Pǫddibrunnar (Paderborn) und Meginzoborgar (Mainz) angibt. Der amerikanische Literaturwissenschaftler Francis P. Magoun Jr. (publ. 1940–1944) denkt bei dem schwierig zu lokalisierenden Horús an das bereits von den Kaisern Otto I. und Heinrich II. urkundlich erwähnte Horhusum am nordöstlichen Fuß der Eresburg (Obermarsberg). Dieser einst dem Kloster Corvey tributpflichtig überlieferte Ort, heute als Wüstung kaum mehr kartografiert, findet sich daneben auch in Hermann Oesterleys historisch-geographischem Wörterbuch des deutschen Mittelalters (1883:302). Den Ort Kiliandr verbindet schließlich Magoun über postulierte Stammwurzelformen wie z. B. Nitahe oder Nitehe mit der (G)Nita heiðr, und zwar der Nidda bei Kilianstädten (dgl. Rudolf Simek, Altnord. Kosmographie, RGA Erg.-Bd. 1990:484. Zur Übersetzungskritik Dominik Waßenhoven 2008:29–61).

Hat für diese Identifizierung, die Magoun immerhin als „most tentatively“ bezeichnet, der in altnordischer Mythologie fest verankerte Drache Niddhogg als Pate im Hintergrund gestanden?

Bereits vor Magoun lieferte Nikulás Übersetzer Erich Christian Werlauff (Universität Kopenhagen) eine kaum minder interessante Alternative. In seiner 1821 veröffentlichten Symbolas ad Geographiam medii ævi ex monumentis Islandicis stellt er (Seite 37, Anm. 34) für Kiliandr das bei Warstein gelegene Kaldenhart zur Disposition – also der später von Ritter identifizierte Hohle Stein bei Kallenhardt! Rund 25 km südöstlich befindet sich die größte Hochheide Nordwestdeutschlands um Willingen und von dort rund 15 km östlich die zu Nikulás Zeit bereits urkundlich genannte St. Kilian-Kirche in Korbach.

Sigurðs Entscheidung, gleich nach dem „Drachenkampf“ auch seinen Ziehvater zu erschlagen – den offensichtlich letzten Mitwisser von Fáfnirs ungeheurem Schatz(h)ort – könnte auf dessen bevorzugte Verschleppung zu einem Versteck unweit von der Stelle des „Drachenkampfs“ bzw. von Fáfnirs Hort hindeuten.

Sich auf dessen erzählerisches Milieu beziehend ergänzt Felix Genzmer die von Gustav Neckel herausgegebene Edda-Ausgabe (Berlin 1927) mit einer Textstelle aus der Vǫlsunga saga:

Sigurd ritt auf Fafnirs Spuren nach dessen Hause und fand es offen, und die Türen und Pfosten von Eisen. Von Eisen war auch alles Zimmerwerk am Hause, und alles tief in die Erde gegraben. Da fand Sigurd großmächtiges Gold und füllte damit zwei Kisten. Da nahm er Ögis Helm und die Goldbrünne und das Schwert Hrotti und viele Kostbarkeiten und belud Grani damit. Aber das Roß wollte nicht fortgehen...

Das von Magoun befürwortete Kiliandr liegt etwa 30 km Luftlinie von jenem Berg, auf dem bereits 1043 für die Geliebte des Drachentöters anstelle eines seinerzeit tradierten lectulus Brunhildi ein „Brunhildisfelsen“ geweiht wurde. Den Schauplatz Gnitaheiðr betreffend folgt der Philologe und Buchautor August Hunt zwar F. P. Magoun, identifiziert jedoch letztlich Seeburg am Süßen und Salzigen See als Brynhilds Hauptsitz. Andererseits besteht für den mit Brunhilds Sitz verbundenden „Hirschkuhberg“ = Hindarfjall nur wenige Kilometer östlich von Bad Honnef zumindest eine Namensgleichheit für einen Berg, der später in Himmerich umbenannt wurde; vgl. Johann Joseph Brungs, Berg- und Flurnamen aus dem Bereiche des Siebengebirges (1931) S. 12–13.

Aus dem von Nikulás um die Mitte des 12 Jahrhunderts verfassten Reisebericht, jedoch in zwei Handschriften mit deutlich späteren ortstypischen Merkmalen von Rom und Deventer erhalten, kann nicht entnommen werden, dass er das Nibelungenlied gekannt hat. Er gibt Þiðreks bað bei Viterbo (→ Bagnoregio bzw. Balneum Regium) an, woraus sich folgern ließe, dass er oder seine beiden Kopisten diesen Thermenort als ein Resort des italienischen Theoderich verstanden haben. Diese Stelle könnte ein altnordischer Skribent schließlich für die Þiðreks saga aus Nikulás' Leiðarvísir rezipiert haben – jedoch ohne zu wissen, dass ein Þiðreks bað nördlich der Alpen für einen gleichlautenden fränkischen König längst nicht unmöglich war!

Hat die orts- und figurensymbolische Gleichsetzung von Siegfried dem Drachentöter mit dem auf einer Schötmarer, Loxtener oder gar Hildesheimer Heide kämpfenden Germanenführer Arminius – der ja mindestes eine römische Heeresschlange besiegt hat („Varusschlacht“) – tatsächlich einen Anspruch auf archaische Stimmigkeit? Bekanntlich wird diese fach- und medienpopuläre Interpretation von Analysten bevorzugt, die sich weniger um historische Kontinua und Biografien von überlieferten Heldenzeugnissen kümmern und vielmehr, offenbar wegen einer für sie kaum überschaubaren Anzahl an abgeleiteten Siegfried-Rezeptionen, eine historische Urgestalt außer oder neben ihrem cheruskischen Hermann-Prototyp nicht erkennen können oder wollen. Die unkritische Bejahung dieser sicher mehr als hochspekulativen Siegfried-Perspektive (vgl. dagegen Heinrich Beck 1985:92–107) erlaubt allerdings nicht die älteste verfügbare und wiederum altnordische Schicht nibelungischer Tradition:

Die oben erwähnte und zumindest nach mündlicher Überlieferung vor 1020 datierte heldeneddische Fáfnir-Erzählung als Oraltradition ist die erste literarhistorisch greifbare Schatzhort-Sigfrid-Thematisierung und entmythologisiert – provokant gesagt – alle späteren Auffassungen und Verewigungen des Drachenkampfs. Die daraus sinngemäß übernehmende Vǫlsunga saga enttarnt somit auch den „Drachen“ = Fáfnir als einen leiblichen Bruder von Sigurðs Ziehvater Regin:

Zunächst wird überliefert (vgl. Reginsmál), dass Hreidmar von seinem Sohn Fáfnir aus Habgier bzw. wegen eines bedeutenden Schatzes getötet wurde. Diesen hatte Hreidmar als Wiedergutmachung von einem Angehörigen aus dem (vergötterten) Geschlecht der Asen für die offenbar versehentliche Erschlagung seines in „tierischer Gestalt“ Fische fangenden Sohnes Otr (im Tauch- und Tarnanzug?) erhalten. Sigurð wird schließlich von Regin angestiftet, dessen Bruder Fáfnir zu beseitigen. Und wie dieser mit seinen letzten Worten Sigurð gesteht, habe er einen „Schreckenshelm“ getragen (siehe Zitat oben), um mit beeindruckend inszenierten Auftritten ungebetene Schatzsucher fernzuhalten. Die an dieser Vorgeschichte wenig Anteil nehmende Þiðreks saga überliefert beide Gestalten mit anderen Namensbezeichnungen und tradiert – offenbar in vermittlerischem Interesse oberdeutscher Stoffauffassung – jedoch nicht in einer derart verständlichen Version die Enttarnung des „Drachen“.

Übrigens findet man unter dem Eintrag „Drache“ im Großen Duden Lexikon, Ausgabe 1969, dies Erklärung:

der Sieg über den Drachen bedeutet Sieg über Chaos, Finsternis oder über eine alte Ordnung...

Der Drache verkörpert also Schlechtes – ohne notwendigerweise leibhaftig auftreten zu müssen! 

Der „Lindwurm“ auf dem Drachenfels am Rhein.
Diese Skulptur ist übrigens eine detaillierte Nachkonstruktion anhand realer Skelettfragmente, die im Senckenberg Museum Frankfurt und im Berliner Zoo aufbewahrt werden! 
Bildquelle: Verfasser.
 

5  Brünhilds Burg

Nach der Þiðreks saga und den altschwedischen Handschriften begibt sich Sigfrid mit schwerer Montur (Rüstung) zu Brünhilds Sitz „Seegard“. Die Wahl beschränkt sich also entweder auf die Heimburg (H. Ritter), Seeburg (A. Hunt) oder Burg Ilsenstein (W. Böckmann). Letztere befindet sich auf einem Berg nahe am Brocken mit herrlicher Aussichtslage – das Nibelungenlied nennt übrigens Burg Isenstein als Brünhilds Sitz.

In jenen altnordischen bzw. altschwedischen Überlieferungen wird diese am Nordgebirge beschrieben, sowie nahe bei einem Brünhild gehörenden Gestüt in einem Wald ganz nah dabei, dessen Pferde wegen ihrer außergewöhnlichen Eigenschaften viel gerühmt wurden.

Königin Brünhild war zu jener Zeit Vollwaise. Ihr Oheim oder vielmehr Schwager war nach der Vǫlsunga saga der Pferdezüchter Heimir („Studder“; vgl. Heim in Sv 14). Die quelltextliche Lage seiner Heimburg, die später unter anderem mit Heinrich IV. und Heinrich dem Löwen geschichtlich verbunden werden sollte, kann durch einen einige Kilometer nördlich von ihr gelegenen großen unterirdischen See bestätigt werden, wie dem Verfasser dieses Beitrags von den Besitzern der sog. Drachenloch Parzelle über dort angestellte geophysikalische Untersuchungen mitgeteilt worden war.

Gleichwohl dürfte nach W. Böckmann – und damit im Gegensatz zu Ritter-Schaumburgs Überzeugung – die wegen ihrer bemerkenswerten Stärke bekannte Königin wohl kaum Grund gehabt haben, I(l)senstein nach dem Tod ihrer Eltern aufzugeben und sich in die Hände ihres auf der tiefer gelegenen Heimburg sitzenden übellaunigen Verwandten zu begeben (Sv 14). Zwar könnte, so die kritische Nachbetrachtung, diese fürstliche Burg zu den damaligen Besitztümern der Königin gehört haben, doch die weitaus repräsentativere Lage, nicht zuletzt über einen ca. 1,8 km langen Burgaufgang, sollte an jenem „Isenstein“ mit seinen noch erhalten gebliebenen Burgfelsen zu finden sein.
 
Der Konus der Heimburg (Bildmitte) in strategisch wichtiger Lage.
Das Harzgebirge hinter der Heimburg.

   Bildquelle Fotos: Verfasser.
Pferdekapitell Krypta Drübeck.
Die Heimburg von Merian, 1654. Grundriss

Die traditionsreiche aber dennoch eigenartige Pferdezucht ... in Hainen und lichten Wäldern, so Tacitus in seiner Germania (Kap. 27) belegt auch das Pferdekapitell der Krypta in der Klosterkirche Drübeck, die in jenem nur etwa 3,5 km vom Ilsenstein gelegenen Nachbarort gegründet worden war. Von diesem ist die Heimburg übrigens viermal weiter entfernt. 

6  Didrik: Dietrich von Bern

Didrik wird in einem Alter von unter 20 Jahren als „König von Bern“ ausgerufen. Nach einer massiven Drohung von seinem in Trier = Roma secunda residierenden Blutsverwandten Ermenrik begibt sich der erwachsene Didrik mit seinem Gefährten Hildebrand in ein längeres Exil zu König Atala in Susa(t). Der für fränkische Geschichtsschreiber offenbar unerreichbare Rheinfrankenkönig nutzt die Gelegenheit, ihn bei dessen Ostkriegen mit Rat und Tat maßgeblich zu unterstützen. Der ostrheinische Herrscher mit Sitz in Susat = Soest hilft ihm später bei seinem Feldzug gegen Ermenrik. Doch nach der Schlacht an der Moselmündung (Gransport) verzichtet Didrik wegen erlittener hoher persönlicher Verluste – hier sterben ein Blutsverwandter und zwei Abkömmlinge aus König Atalas Familie – scheinbar freiwillig auf den Herrschertitel von Trier.

Orte der Þiðreks saga nach Ritter-Schaumburg und anderen Forschern.

Nach der vernichtenden Niederlage der Niflungen in Soest verlässt Didrik diesen Ort, zieht zunächst in sein angestammtes Berner Reich, rekrutiert hier sein neues Heer und trifft schließlich bei Graach an der Mosel auf die Truppen von Ermenriks Ratgeber Sevekin, den er leicht schlagen kann. (Dazu mehr im Verfasserbeitrag Die Mosel im Licht von Thidrekssaga und Dietrich-Chronik.) Wie die altnordischen und altschwedischen Scriptoren weiter berichten, zog er unmittelbar danach in „Rom“ (= Trier) ein, wurde dort gekrönt und regierte schließlich ein noch größeres Reich. Didrik stirbt nach Ritter-Schaumburgs chronologischen Identifikationen gegen 535. 

7  Hagen

Hagens Vater kann den Garten der sicher bestens bewachten Königsburg für ein Schäferstündchen unbehelligt aufsuchen! Er dürfte also mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit am Hof bekannt sein und dort ein und aus gehen. Sein selbstsicheres und verheißungsvolles Auftreten (Svava: Sv 161) passt zu einem Druiden: Das Wirken eines keltischen Priesters am Heimatsitz der Niflungen lässt sich aus typischen Ortsnamenrelikten in dem weiter oben lokalisierten Voreifelbereich unterstellen. Hagens Herkunft – die offensichtlich ererbte Apposition seines Namens – bezeichnen die Handschriften gelegentlich mit „von Tröya“ (Sv 340) oder auch „von Troja“ (Membrane: Kap. 395). Wohl aber scheint erheblich plausibler, dass Hagens (un)mittelbare Vorfahren nicht aus der urbanen Xantener Traiana oder gar dem griechischen Troja auswanderten, sondern der väterlich übernommene Beiname eher auf Troyes der Champagne-Ardenne hindeuten darf. Gemäß seiner altrömischen Bezeichnung Augustobona Tricassium war dieser Ort das überregional herausragende keltische Zentrum der Trikassen.

Hagens altnordische Schreibweise ist traditionell Hǫgni, dessen diakritisches Ogonek-Schriftzeichen jedoch nicht nur im Deutschen entweder vernachlässigt oder, der Lautform nach jedoch verfälschend, durch ein Trema („Umlaut-Doppelpunkt“) ersetzt wird. 

8  König Isungs Land

... Sie ritten durch große Wälder und Heiden ...

Die quelltextliche Beschreibung des Landes von König Isung trifft mit bemerkenswerter Genauigkeit auf die Lüneburger Heide zu: Das königliche Schloss vermutet Ritter-Schaumburg auf dem Kalkberg in Lüneburg.

Der Kalkberg zu Lüneburg von Merian.

Übrigens sagt Sigfrid zu seinem König (Sv 185) – ohne dass eine entsprechende Vergleichsmöglichkeit eröffnet worden war –, dass auf dem Schild eines Ankömmlings „auch ein Löwe aus Gold mit Krone steht.“ König Isung führt also ein identisches Wappen, wie es bis in die Gegenwart von solchen Dynastien verwendet wird, die jenes Gebiet zwischen Braunschweig und Lüneburg beherrschten. 

9  Sigfrid und Grimhild (und König Atala)

Über irgendeine gegenseitige Zuneigung für eine Liebesheirat zwischen Sigfrid und Grimhild wird nicht berichtet! Aus den Heldenliedern der Edda geht sie als als Gudrun hervor.

Zum Zeitpunkt ihrer Heirat des Hunaland-Königs Atala mag sie Anfang 40 gewesen sein und mit ihm – unter der Voraussetzung verhältnismäßig günstig verlaufender Lebensumstände und einer entsprechenden genetischen Veranlagung – gerade noch einen Sohn gezeugt haben können. Hier sollte jedoch auch hinterfragt werden, ob sie mit König Atala tatsächlich den scheinbar einzigen leiblichen Thronfolger für die offenbar geplante Provokation zur Niederschlagung der Niflungen-Gäste opfern wollte. Sollte es sich hierbei nicht um einen fiktiven literarischen Einschub handeln, so könnte dem oder den überliefernden Zeitzeugen ein Abkömmling von einer Konkubine Atalas als Grimhilds Sohn vor Augen geführt worden sein.

Interessant klingt auch ein Passus in einem eddischen Heldenlied wonach König Atli deswegen eine geschwätzige Hofmagd bestrafen ließ, weil sie von einem gemeinsam geteilten Nachtlager von Gudrun mit dem in der Residenz ihres Gemahls weilenden Thiodrek gewusst haben wollte.

Dagegen steht für die aus den Quelltexten abgeleitete Niflungen-Genealogie zweifelsfrei fest, dass der offenbar früh verstorbene Niflungen-Vater Irung (sonst „Aldrian“) nicht mehr Grimhilds jüngsten „Bruder“ Gislher gezeugt haben konnte und Königin Oda mit hoher Wahrscheinlichkeit auch nicht seine Mutter gewesen war, wie Ritter-Schaumburg zu Recht angemerkt hat. 

10  Schlangenturm und Irungsmauer

Die mittelalterliche Existenz eines Soester palatium sive turris, dem allerlei „Getier und Reptilien“ als Behausung zugeschrieben wurde, ist historisch belegt. (J. S. Seibertz, Urkundenbuch zur Landes- und Rechtsgeschichte des Herzogthums Westfalen, I, (1839) S. 104.)

Hinsichtlich des Soester „Schlangenturms“ (altnord. ormaturn) darf jedoch längst nicht gefolgert werden, dass ein mit diesem Gebäude assoziierter Bereich in erheblich früherer bzw. von Ritter-Schaumburg erkannter Zeit gar unmöglich war; vgl. etwa jenen „Schlangengarten“ schon in der heldeneddischen Atlakviða. Daneben können aber auch andere in den Soester Erzählungen erwähnte hochmittelalterliche Örtlichkeiten, so der zur Residenz gehörende Garten und jener „Irungsweg/Steinweg“ oder jene „Irungsmauer/Steinmauer“, wohl kaum ausführungsgleich um ein halbes Jahrtausend früher angenommen werden. Somit kann dieser raumzeitliche Überlieferungskontext eher weniger für die Konstruktion eines Widerspruchs gegen ein potenzielles oder „putatives“ migrationszeitliches Schlachtereignis des 6. Jhs. verwendet werden.

Im Gegensatz zu einer kurzsichtigen Kritik an Ritter-Schaumburg wird man vielmehr die Möglichkeit in Betracht ziehen können, dass der hochmittelalterliche wie offenbar im späteren Westfalen ansässige Überlieferer nur unzureichend von zeitlich weit zurückliegenden baulichen Details in seinem Heimatzentrum wusste und sich daher – anhand gegenwärtiger Verhältnisse – an eine mangels sonstiger chronistischer Quellen nicht widerlegbare fränkisch-sächsische Schlacht im 6. Jh. rekonstruktiv erinnerte. Oder erzählungsperspektivisch anders gesagt: Aus seiner Darstellung bzw. Quelle, dass „einst Hǫgni und Irungr unweit von einem/»unserem« apaldrsgarðr, grasgarðr oder homgarðr -*bomgarðr gegeneinander kämpften“, konnte das nach mittelalterlichem Überlieferungsverständnis offenbar weniger dringliche und hier einleitend gesetzte Zeitadverb vernachlässigt worden sein.

Der Kieler Universitätsprofessor Dietrich Hofmann schreibt zu Ritter-Schaumburgs massiver Revision einer vielmehr nördlicheren Nibelungengeschichte:
 
"Attilas Schlangenturm" und der "Niflungengarten" geben nach dem, was die Þiðrek saga über sie sagt, Anlaß zu zwei Aussagen über die Geschichtsauffassung der Soester im Mittelalter: 1. Sie hielten sagenhafte Geschichten – noch dazu fremden den Ursprungs für historische Berichte aus der Geschichte ihrer eigenen Stadt. 2. Über die wirkliche Geschichte ihrer Stadt vor 200 und mehr Jahren wußten sie wenig oder nichts [...]
 
und argumentiert dazu wenig später:
 
Die beiden Aussagen sind nun aber doch noch etwas zu modifizieren. Zum einen wird man annehmen dürfen, daß manche Menschen in Soest und anderswo über die wahre Geschichte der Stadt besser Bescheid wußten als der Erzähler der Niflungengeschichte. Schon wegen der Besitzverhältnisse müßte man wohl nicht nur beim Erzbischof in Köln, sondern auch in der Soester Geistlichkeit über den "Schlangenturm" richtiger informiert gewesen sein. Es ist aber damit zu rechnen, daß der Glaube an die Historizität der Niflungengeschichte als Soester Lokalgeschichte in der Bevölkerung weit verbreitet und stark verwurzelt war. Sonst hätte der Erzähler sich nicht so überzeugt äußern können, und diese Version hatte sich ja offenbar auch weit über Soest hinaus verbreitet. Einzelne "Intellektuelle" kamen dagegen nicht an. Die mündliche Tradition war im Mittelalter eine große Macht, weil man sie für historisch hielt und weitgehend halten mußte. Jahrhunderte –, ja jahrtausendelang hatte es überhaupt keine andere Art der Geschichtsüberlieferung gegeben, und die sich erst allmählich entwickelnde schriftliche Überlieferung war den meisten Menschen nicht zugänglich, so daß sie kaum Möglichkeiten hatten, die zur Sage gewordene mündliche Überlieferung an den historischen Fakten zu überprüfen und zu korrigieren. Deshalb treffen die oben gemachten Aussagen zur Geschichtsauffassung der Soester Bürger im 12./13. Jahrhundert nicht diese allein, sondern dürften für die Geschichtsauffassung breiter Bevölkerungsschichten im Mittelalter allgemein typisch sein.
   Durch eine weitere notwendige Modifikation der beiden Aussagen bekommt Ritter bis zu einem gewissen Grade doch noch Recht. Man muß nämlich auch die Frage stellen, wie es überhaupt dazu hatte kommen können, daß die Soester fremdes Sagengut als eigene Geschichte rezipierten. Die Existenz alter Mauerreste und eines verlassenen Turms, in dem Schlangen hausten, reicht allein sicher nicht aus, um das zu erklären. Man kommt hier nur weiter, wenn man annimmt, daß es in Soest schon vor der Rezeption der Nibelungensage alte Erzähltraditionen gegeben hatte, die man für historisch hielt, Geschichten etwa über einen mächtigen König in vorchristlicher Zeit, über schwere Kämpfe an der Westmauer der alten Stadtkernbefestigung usw. Ähnlichkeiten im Handlungsverlauf und in der Personenkonstellation könnten dazu geführt haben, daß man die Nibelungensage, die vor allem von fahrenden Sängern in der Form von Liedern in ganz Deutschland und darüber hinaus verbreitet wurde, in Soest mit Geschichten der eigenen Tradition – auch sie wohl in Liedform – identifizierte. Gleiche oder ähnliche Namen handelnder Personen konnten die Identifikation und somit die Rezeption der Nibelungensage natürlich wesentlich fördern.
   Von daher gesehen ist es keineswegs abwegig – wenn auch rein hypothetisch  –, auch den Namen
At(t)ano auf der Soester Scheibenfibel (Ende des 6. Jhs․) in die Diskussion einzubringen, wie Ritter es getan hat (S. 207ff.). In mittelniederdeutscher Zeit wäre *Attene daraus geworden, eine Namensform, die sehr wohl Anlaß zu einer Identifikation mit Attila hätte geben können  – dies übrigens eine literarisch beeinflußte Namensform, die zeigt, daß bei der Darstellung der Þidreks saga ein bißchen Gelehrsamkeit im Spiel war, die aber den Glauben an die Richtigkeit der mündlichen Tradition offenbar nicht beeinträchtigte [...] Entsprechendes wie für den Soester Teil der Niflungengeschichte gilt natürlich auch für deren in anderen Orten und Gebieten Westfalens und des Rheinlandes lokalisierte Bestandteile, über die Ritters Buch – wie schon seine vorausgegangenen Aufsätze – wichtige Erkenntnisse bringt. Natürlich konnten auch die Geschichten in den Bannkreis der Nibelungensage geraten, zu denen es keine Entsprechungen in ihr gegeben hatte, so möglicherweise eine Lokaltradition über den eingemauerten Toten im Hoh(l)en Stein von Kallenhardt im Sauerland, die auf Attila übertragen worden sein könnte.
 
(Dietrich Hofmann, "Attilas Schlangenturm" und der "Niflungengarten" in Soest, Jahrb. des Vereins f. niederdt. Sprachforschung 1981, Nr. 104. Zitat S. 44–45.)
  Der alte Stadtkern mit Höhenlinien nach einem Katasterplan von 1830. Dietrich Hofmann führt in seinem vorgenannten Artikel auf S. 40 eine hochmittelalterliche Rekonstruktionszeichnung von F. W. Landwehr an; vgl. dazu Ritter-Schaumburg 1981:193. Zur Überlieferungslage identifiziert er jedoch nicht den Turm der bischöflichen Residenz („Pfalz“) als „Gunnar’s Schlangenturm“, vgl. S. 199–203.

Nach den Quelltexten war Hǫgni in Soest die offensichtlich beeindruckendste kämpferische Erscheinung. So zu nennen der Durchbruch der westlichen Mauer, der Kampf gegen Irung und schließlich Þiðrek, dann die Zeugung eines Sohns, der Rache an dem Patron bzw. „Ata“ von Soest verüben sollte. Mit Troyes, das als Herkunftsort von Hǫgni vorgeschlagen wurde, besteht ein nicht uninteressanter Bezug auf diesen seinerzeit fränkischen Ort, aus dem der Kölner Erzbischof Bruno über die Jahre 962 bis 964 die Reliquien des heiligen Patroklus nach Soest als dessen neuen christlichen Patron überführen ließ.
Der frühere Soester Bürgermeister Heinrich ten Doornkaat Koolman schreibt in seiner Publikation Soest die Stätte des Nibelungenunterganges?  (Rochol Soest 1937, siehe S. 10–11) zu den Relikten einer am ehemaligen Pfalzgebäude gefundenen älteren oder vergleichsweise ältesten Maueranlage:
 
Wie in der Zeitschrift des Soester Geschichtsvereins Nr. 14 Seite 22 ff. berichtet wird, kamen 1884 bei den Ausschachtungsarbeiten für ein neues Pfarrhaus an der Ecke des Petrikirchhofes und der Hospitalgasse alte Mauerreste zum Vorschein. Gücklicherweise hat man den Fund sorgfältig aufgemessen, und eine von dem Baumeister Lange am 16.7.84 angefertigte maßstäbliche Zeichnung ist in dem Heft 14 S. 24/25 wiedergegeben.
     Danach hat eine von Norden nach Süden verlaufende, 1,80 m in die Tiefe reichende Mauer den Petrikirchhof von dem zum Hohen Hospital gehörenden Gebiet geschieden. In einer anschließenden von Osten  nach Westen verlaufenden, aus großen behauenden Quadern aufgeführten Mauer von reichlich 1 m Dicke befanden sich unter der Erdoberfläche zwei etwa 2,20 m hohe und etwa 1,80 m weite rundbogige Torbogen. Weiter befand sich ein Haufen Bauschutt untermischt mit Resten verkohlten Gebälks.
     In dem Bericht ist weiter vermerkt, diese Mauer müsse zum Hohen Hospital in Beziehung gestanden haben, wenn sie auch keineswegs einen Teil des Gebäudes gebildet habe. Dafür, daß dies nicht der Fall gewesen, spreche die völlige Verschiedenheit des Mauerwerks.
     Dies Alles deutet auf eine ältere Burganlage hin, die vor der Errichtung der merowingischen Pfalz bestanden hat.


Ritter-Schaumburg ergänzt (1981:198, allerdings ohne Quellenangabe), dass man nach einer weiteren Grabung des „Historischen Vereins“ von 1951/52 noch unter dem Fundamentniveau der alten Pfalz auf eine ca. 2,5 m dicke Mauer gestoßen war. Nach den darunter ergrabenen Schichten mit Verkohlungsrelikten und „wahllos zerstreuten menschlichen Knochenresten“ wurde in dem von ihm zitierten Grabungsbericht auf „schwere Kampfhandlungen im frühen Mittelalter“ geschlossen.



Lageplan des Mauerfragments und dessen Rekonstruktionszeichnung aus der von Doornkaat Koolman zitierten Quelle.

 
Der Friesen-Chronist Suffridus Petrus, mit bürgerlichem Taufnamen Sjoerd Pietersz, berichtet in seinen z. T. recht patriotisch verzerrten De Frisiorum antiquitate et origine libri tres über die fränkische Belagerung und offenbar endgültige Eroberung von Soest erst unter Dagobert I. Er soll mit diesem Feldzug, wohl zwischen 623 und 625, dem Willen seines noch lebenden wie ihn auch unterstützenden Vaters Chlothar II. gefolgt sein. Wie Suffridus in seinem zweiten Buch schreibt (Kap. 15), soll der aus einem scheinbar friesischen Geschlecht stammende und über den Soester Raum befehlende Yglo Galama mit Dagoberts Streitmacht konfrontiert worden sein. 

11  Nibelungenhort – Sigfrids Nibelungenschatz

Setzte man tatsächlich seine Existenz in Auslegung der altnordischen und altschwedischen Quelltexte voraus, dann müssten zum übertragbaren Kontext mindestens die folgenden Voraussetzungen erfüllt sein:

1. Die Entfernung des Schatzhortes vom Ausgangspunkt, der Soester Residenz, müssen zu Pferd ein etwa zwölfjähriger Junge und ein alternder oder leicht altersschwacher König ohne weitere Begleitung und ohne große Mühe bewältigen können. 
2. Lage und Zugang der Kammer dürfen im Gelände wegen ihrer guten Tarnung nicht so leicht zu erkennen sein. 
3. Die Kammer muss die verschütteten Überreste eines entsprechend lange Verstorbenen enthalten. 
4. Die Lage des Verstorbenen darf nicht auf eine Bestattung schließen lassen. 
5. Der Verstorbene darf kein jüngerer Mann mehr gewesen sein und muss auf jenen Zeitbereich datiert werden können. 
6.  Die beim Verstorbenen noch zu findenden persönlichen Gegenstände, eventuell auch Schmuck, müssen zu einem auf geheimem wie friedlichem Ausritt befundenen Herrscher des 6. Jahrhunderts passen. 

Eine solche Höhle wurde bereits im Jahr 1926 zu Kallenhardt bei Warstein wissenschaftlich erschlossen:

In der schlauchförmigen Kammer dieses sogenannten Hohlen Steins lag ein unbestatteter Toter in einer ungestörten Schicht; aber so, dass eine Bestattung an dieser Stelle ausgeschlossen war. Sein Alter wurde auf etwa 50 Jahre datiert. Die bei seinem Skelett gefundenen Schmuckstücke (Runenfibel, Armreif, Fingerring, Knöpfe) lassen nach den seinerzeit von Prof. Stieren und Dr. Julius Andree geleiteten Ausgrabungen sowohl auf die vornehme Herkunft des Toten als auch auf die geforderte Epoche schließen. Bei einer erneuten Grabung im Jahr 1933 kamen am Westeingang der Höhle noch die Reste einer Falschmünzerwerkstatt aus dem Dreißigjährigen Krieg zum Vorschein. Der Fingerring des Toten zählt übrigens zum Bestand des Landesmuseums Münster, die restlichen Stücke zu den Museen in Lippstadt und Olpe. Ritter-Schaumburg vermerkt in seinen Ausführungen unter Berufung auf ein Gespräch mit Dr. Andree, Prof. Stieren „habe (zur Kallenhardter Entdeckung) mit Vielem zurückgehalten“.

Wohl deswegen sah einer der bei der Ausgrabung Anwesenden – der heimische Ortshistoriker und spätere Schuldirektor Eberhard Henneböle – genügend Veranlassung, noch gesondert über diesen Fund zu berichten (Die Vor- und Frühgeschichte des Warsteiner Raumes in: Beiträge zur Warsteiner Geschichte, Heft 2, 1963). Für ihn steht zweifelsfrei fest, dass hier der von der Þiðreks saga bezeichnete Soester Herrscher seinen Tod gefunden hat.

Ritter-Schaumburg verfasste am 7. Juli 1987 diesen Nachtrag zum bronzenen Fingerring des Toten:


Die Ritzungen auf dem Fingerring des Toten im Vergleich mit Runensymbolen auf einem Knochenfund (rechts) bei Hammelwarden (Brake) an der unteren Weser.

Quellen:
Hans Schumann 2016 (Repro des Fingerrings derzeit noch unverifiziert). Zu OL4991 siehe insb. Peter Pieper 1987, 1989; Martin Findell 2010.

 
. Der verschwundene Bronzering mit der »Kreuz«-Verzierung ist wiederaufgetaucht. Er befindet sich jetzt im Museum in Olpe (Sauerland). Er wurde von dem Archäologen Dr. Hömberg als »ein üblicher Ring des 6. und frühen 8. Jahrhunderts« eingestuft. Damit gehört er in die gleiche Zeit wie die Funde in den Soester Frauenkammergräbern. Bisher hatte man die Fundstücke im Hohlen Stein in die Zeit um und vor Christi Geburt datiert. Das trifft also auf den Bronzering nicht zu. Im übrigen kann ein Schatz, den »viele Könige und Herren zusammenbrachten«, auch sehr alte Stücke enthalten haben.
Den Ring umlaufen 6 Einritzungen, fünf Schrägkreuze und ein Schrägstrich. Das können keine Verzierungen sein, weil ihnen die Regelmäßigkeit fehlt. Auch die Schrägkreuze sind ungleichmäßig: die Striche sind verschieden lang und die Schnittpunkte einmal mehr auf dieser Seite und dann wieder mehr auf der anderen. Sie berühren sich auch nicht. Ich halte sie daher für Runen. Es ist die Glücksrune X (G), wie sie auch auf der Soester Rundfibel eine wichtige Rolle spielt, und sie ist also etwa gleich alt mit den dortigen Runen. Es sind 5 Schrägkreuze, so viele, wie der Fibel-Name ATANLO Zeichen hat, und es könnte eine Beziehung zu diesem Namen gemeint sein. Der Schrägstrich beendet diese Reihe und ergänzt zur Sechszahl. Der Ring ist ein Hinweis dafür, daß zwischen den Geschehnissen im frühen Soest und denen im Hohlen Stein eine Beziehung besteht.

Gegen die Auffassungen von Eberhard Henneböle und Heinz Ritter-Schaumburg über Herkunft und Identität des migrationszeitlichen Toten wäre etwa einzuwenden, dass ein so mächtig beschriebener Soester Großkönig wohl eher einen standesgemäßen Goldring anstelle eines Bronzerings auf seinem Inkognito-Trip anbehalten hätte?
 
 Gemauerte Wand           x  Fundstelle des Toten
A
Verfasserkopie vom Höhlengrundriss/Lageplan. Nach Angaben des Ortshistorikers Eberhard Henneböle.  Bildquelle Fotos: Verfasser. 
B C

»Hagen verschleppt Sigfrids Schatz«: Liegt das „Rheingold“ in Rheinbach-Loch bei Bonn?
  http://www.wingarden.de/wing/germanen/art-nibelungen2.html
(Abgerufen 11.05.11.)

Den Quellenwert der historiografischen Handschriften mit oberdeutschen Reimfabeln abwägend haben von institutionalisierter Nibelungengeografie nicht vereinnahmte Forscher das nordöstliche Voreifelgebiet als den ursprünglichen Heimatbereich der Nibelungen–Niflungen erkannt. Auch Hobby-Historiker und Schatzsucher Rudolf Patzwaldt will selbst anhand des Nibelungenlieds den Eifelraum als jene schicksalsträchtigste Region von Sigfrid und den Nibelungen herausgelesen haben. Allerdings befürchten nicht nur Berufsgermanisten, dass Patzwaldt nach seiner Verortung eines Rheinbach-Locher Schatz(h)orts der Fachwelt und natürlich auch einem zunehmend interessierten Publikum die Präsentation eindeutiger Grabungsergebnisse schuldig bleiben wird. Und dies mag auch die Hoffnung oder Erwartung derjenigen Forscher sein, für die Ortsgeschichte und Namengebung im Eifelraum und in niederrheinischen Bereichen nicht vor deren frühester urkundlicher Verfügbarkeit stattfinden darf und die in ihrem unerschütterlichen Restglauben an oberdeutsche Reimdichtung südlichere Rheinbereiche um den fabulierten Nibelungensitz Worms vorrangig favorisieren. 

»Nibelungentode in Xanten«: Mehr über die Versenkung eines Nibelungen(h)orts  (Kommentar)

12  Grabmale, Soest 6.–7. Jahrhundert

Wenn man der fernen Nachwelt mit seinerzeit zur Verfügung gestandenen Mitteln eine zeitbeständige Botschaft über die in Soest zugetragenen Geschehnisse hätte zukommen lassen wollen, so bestünde hierzu leider die Wahl der äußerst begrenzten Möglichkeiten.

Damals wie auch in anderen Epochen war es jedoch – glücklicherweise – üblich, hervorstechende Persönlichkeitsmerkmale durch entsprechende Grabbeigaben zu unterstreichen.

Wie hätte man in diesem Sinne für die Soester Königsfamilie verfahren können?

Minimalvoraussetzungen:

1. Männliches Königsgrab nicht vorhanden, denn Atala starb nach der Niflungensaga in Sigfrids Schatzkammer. 
2. Neben einem Frauengrab ein Knabengrab, denn Grimhilds und Atalas Sohn Aldrian starb überlieferungsgemäß durch Hagens Hand. 
3. Ein Frauengrab, das der Beischläferin auf Hagens Sterbelager, müsste ein Schmuckstück mit Schlüsseldarstellung oder diesen als reinen Gegenstand enthalten, denn Sigfrids Schlüssel vom Schatzhort ist ein markantes Soester Symbol für König Atalas Tod. 
4. Das vorgenannte Frauengrab sollte andernfalls oder zusätzlich ein Symbol enthalten, das die Verbindung mit Hagen (ein ungekrönter Adler ziert sein Wappen) zur Zeugung seines Sohnes Aldrian verdeutlicht. Er soll später tödliche Rache am Soester König verübt haben. 
Im Frühjahr 1930, ca. 1 km südlich des alten Soester Stadtkerns, wurden bei Ausschachtarbeiten Kammergräber gefunden, die ebenfalls unter der Leitung von Prof. August Stieren ausgehoben und untersucht wurden. Abgesehen von hierzu erforderlichen zeitgenössischen Voraussetzungen erfüllen die Grabungsergebnisse zumindest grundsätzlich die vorgenannten Bedingungen: Zwischen zwei sehr vornehmen Frauengräbern, darunter das „königliche“ (Nr. 106), befand sich ein verhältnismäßig kleines männliches Grab („Jungengrab“ Nr. 17), das wegen seiner Beigaben ebenfalls einen hohen Rang des offenbar jung Verstorbenen auswies.


Soester Kammergräberbestand. Gräber 1, 13, 18, 165, 170, 180: Frauenbestattungen. Beigaben im männl. Grab 179: Waffenteile aus Eisen.

Das Frauengrab Nr. 106 stammt nach einer Strontiumisotopenanalyse von einer in der Soester Region aufgewachsenen Frau und ist daher wohl nicht Grimhilds letzte Ruhestätte. Nach zwei altnordischen Überlieferungen, der Atlakviða und den Atlamál, überlebte Grimhild = Gudrun die Schlacht ihrer Brüder am Sitz ihres Gemahls Atli und heiratete später, so nach der älteren Atlakviða und auch der später verfassten Vǫlsunga saga, noch ein drittes Mal einen König. Nach dem Nibelungenlied soll Grimhild von Hildebrand erschlagen worden sein, jedoch nach der Thidrekssaga und den altschwedischen  Texten von Dietrich selbst. Somit scheint nahe liegend, dass ihr Tod in diese Überlieferungen hinzugedichtet wurde.

Die gegen Ritter-Schaumburg vorgebrachte Detailkritik zum Schlüssel oder auch anderer Beigaben im Frauenkammergrab Nr. 105 (Punkte 4–5, siehe auch Abb. unten) erscheint insofern inkonsistent, als es sich bei der Schlüsselbeigabe sehr wohl um entweder dessen lediglich symbolische Nachbildung oder andernfalls (in Originalausführung) um den Tod und Bestattungszeitpunkt der Verstorbenen nach Aldrians Rache handeln könnte. Da zumindest ein Teil dieser Holzkammergräber ursprünglich zu einem Tumulus gehört haben muss (A. Stieren) und im Frauenkammergrab Nr. 105 Standspuren einer Holzbank nachgewiesen wurden, könnte dieser Ort begehbar gewesen sein. Für ein numismatisches Datierungsfenster für andere Grabkammern aus der gleichen Periode wäre demnach auch zu beachten, dass Hinterlassungen von diversen Grabbeigaben (so auch der Justinian-Goldmünze) nicht unbedingt zum Bestattungszeitpunkt erfolgt sein müssen.

       Die goldene Almandinenfibel

Diese sogenannte Granat- bzw. Cloisonné-Runenscheibenfibel (Grabkammer 106) trägt diverse Runenbotschaften auf ihrer goldenen Rückseite und hat daher besondere Forschungsinteressen – auch hinsichtlich ihrer Entstehungszeit – geweckt. Bei dem neben ihr gefundenen und auffälligerweise kaum Gebrauchspuren aufweisenden jüngeren Solidus aus dem „königlichen“ Frauengrab handelt es sich um einen Solidus vom oströmischen Kaiser Justinian I (527–565). Die andere in dieser Grabkammer gefundene, jedoch erkennbar abgegriffene ältere Goldmünze gedenkt Kaiser Valentinian I.

Bereits um 524/525 haben sich Theuderich I. und sein späterer Bischof Gallus um die Beseitigung heidnischer Götterverehrungen im Kölner Raum bemüht und dabei einen weiträumig aufgesuchten Tempel in Flammen gesetzt. Um und nach 530/531, so die Datierung aus fränkischen und sächsischen Quellen, soll dieser Frankenkönig seine ostrheinischen bzw. thüringischen Eroberungszüge bis in den Harzraum ausgedehnt haben. Andererseits, wie bereits oben erwähnt, berichtet der Friesen-Chronist Suffridus Petrus über die scheinbar endgültige fränkische Eroberung des Soester Raumes erst unter Dagobert I. Das wohl in einem westfränkischen Bereich geschriebene Liber historiae Francorum (41) überliefert nahezu zeitgleich einen Weserlauf als fränkisch-sächsische Demarkationslinie. Insoweit würde die offenbar komplexe Datierungsperiode zu den termini a quo & ad quem rund ein Jahrhundert betragen. Zum anderen verdeutlicht jedoch Gregor von Tours die nachhaltige Christianisierung von Trier um das Jahr 525 durch Theuderich, womit man davon ausgehen könnte, dass zum Regierungsantritt seines Sohnes, also rund ein Jahrzehnt später, sich auch Köln bereits längst unter christlicher Herrschaft befand. Insofern bestünde also eine eher geringe Wahrscheinlichkeit, dass nach dieser Zeitmarke die Runenritzungen auf dieser Fibel noch im linksrheinischen Raum hergestellt wurden.

Zu den ostfränkischen Herrscherperioden erscheinen die bis in das frühe 7. Jahrhundert reichenden Datierungskontexte und Aussagewerte der Cloisonné-Runenscheibenfibel (Soester Grabkammer 106 im Zusammenhang mit fränkischen Bestattungsmerkmalen) unter der zeitparallelen Annahme einer bereits hier oder in einem südwestlicheren Bereich erfolgten Christianisierung von Herrscherstrukturen – so auch die raumzeitlich ungeklärte Fibelherstellung bzw. ihre „jüngste Runenritzung“ betreffend – jedoch keineswegs unproblematisch. Zur zeitrelativen Chronologie dieser „Almandinenfibel“ von Grab 106 folgert Daniel Peters im Rahmen einer Nachuntersuchung des frühmittelalterlichen Soester Gräberfeldes, dass deren Abnutzungsspuren und mehrphasige Beschriftung mit Runen für eine spätere Deponierung eines benutzten persönlichen Besitzes sprechen (2011:151). Zu dem sog. „Runenkreuz“ bzw. mit dessen  OTHALA-Besitzsigno hochspekulativ unterstellten „Runenmeister-Monogramm“ (vgl. Ritter 1981:209–212 mit Percy Ernst Schramm, Herrschaftszeichen und Staatssymbolik, I, 16,136–137,216–217,221) stellt Peters unter Hinweis auf andere Untersuchungen fest, dass dieses Runenkreuz als eine Art Verschlüsselung oder Geheimzeichen zeitnah nur in einem weiteren Fall, dem Schretzheimer Männergrab 79 der zweiten Hälfte des 6. Jhs., bekannt geworden ist und dort anhand der Kenntnisse der Soester Inschrift entziffert wurde (2011:57). Bereits zuvor hatte Peters mit Quellenverweisen angegeben, dass eine wenige Funde umfassende frühe Gruppe im nordgermanischen Gebiet bis etwa 500 n. Chr. begegnet, die Soester Fibel ist dagegen einem schwerpunktmäßig in Südwestdeutschland verbreiteten Horizont von etwa 60–80 Inschriften zuzuordnen, die auf Gegenständen der relativ kurzen Zeitspanne von 530/40 bis 600/20 n. Chr. vorliegen (2011:55).

Der Archäologe Max E. Martin bringt mit Runenritzungen versehene Fibeln eines (noch frühchristlichen) fränkischen Horizonts in engen Zusammenhang mit dem „Beginn  merowingischer Runendarstellungen um 530/540 n. Chr.“, wobei er einen geokulturellen Kontext mit der unter Theuderich I. erfolgten Eroberung (von weiten Teilen) des Thüringerreiches und der in weiter nördlicheren Regionen noch verwendeten Runen aufzeigt. Zu den typischerweise in Süddeutschland gefundenen Bügelfibeln mit Runeninschriften gibt Martin zu bedenken, dass eine möglicherweise mit nördlicheren Herrschern verwandte Führungsschicht zur Verbreitung dieses Broschentyps beigetragen haben mag. Bemerkenswert sind zudem die Angaben von Martins Fachkollegen Volker Bierbrauer über eine im Schwarzwald gefundene Fibel (Dunningen, Kirchengrab 17), deren Grundstruktur ebenfalls von fünf konzentrisch angeordneten Kreisen gebildet wird. Der Mittelkreis dieser Fibel ist gegenüber der Soester Ausführung jedoch deutlich gewölbter ausgeführt, was die jüngere Datierung des süddeutschen Exemplars (um 600 n. Chr.) rechtfertigen könnte.

Zur Absicherung von relativchronologischen Zeitschätzungen wurde eine verlässliche physikalisch-chemische Altersbestimmung von Skelettfragmenten und anorganischem Material der oben explizit genannten Soester Kammergräber entweder bislang nicht vorgenommen oder andernfalls nicht zugänglich gemacht. Generell muss allerdings auch von einem relativ weiten Zeitfenster von durchaus mehreren Jahrzehnten für entsprechend „zeitepochal-relative“ Funddatierungen des 6. Jahrhunderts ausgegangen werden. Nach numismatischen Gesichtspunkten könnte die jüngste Münze aus der Grabkammer 106 (Justinian-Solidus) bereits um die Mitte des 6. Jahrhunderts für eine fränkische Akquisition verfügbar gewesen sein.

Quellen:
 
Volker Bierbrauer: Alamannischer Adelsfriedhof und frühmittelalterliche Kirchenbauten von St. Martin in Dunningen in: Heimat an der Eschach, 1986  S. 19–40.
 
Max Martin: Die Runenfibenn aus Bülach Grab 249 (...) in: K. Stüber, A. Zürcher (Hrsg.), Festschrift f. Walter Drack (...). Zürich 1977, S. 120–128; ders.: Kontinentalgermanische Runeninschriften und „alamannische Runenprovinz“ aus archäologischer Sicht  in: Alemannen und der Norden (...) RGA Ergbd. 43  2004  S. 165–212.
 
Daniel Peters: Das frühmittelalterliche Gräberfeld von Soest. Aschendorff  2011.
 
Heinz Ritter-Schaumburg: Die Nibelungen zogen nordwärts. 1981  S. 203–216.
 

Vgl. dazu Rüdiger Hermann (1989:12–13) mit wissenschaftlich unsauberer Argumentation gegen Ritter-Schaumburgs Identifizierungsvorschlag der Runenzüge auf der Cloisonné-Runenscheibenfibel von Grab 106 zwischen Öse und Nadelrast:
     Diese „Entzifferung“ ist bereits nach Ritter-Schaumburgs eigenen Aussagen nicht abgesichert, weil er sie in namentlich sinngebender Bedeutung nicht klar beantworten kann (1981:213) und er insofern weiter konzediert: So befriedigend mir die Entzifferung erschien, so wurde sie doch dadurch eingeschränkt, daß außer der von Stieren abgezeichneten Runengruppe noch weitere Runenzeichen vorhanden sind, die ich nicht entziffern konnte. Allerdings ist fraglich, ob sie mit dem entzifferten Namen zusammenhängen (1981:257, En. 106). Ritter-Schaumburg dann weiter: Hat also der Name etwas mit dem Thidrekssaga-Bericht zu tun? Ich muss die Frage offen lassen (1981:213)!
   Während Ritter-Schaumburg gleichwohl angibt, dass er anhand von A. Stierens Aufzeichnung die Reihenfolge der betreffenden Runenzüge mit Hilfe guter optischer Untersuchungsmittel auf der Fibel nachvollziehen konnte, hat Hermann zu dem betreffenden Runenkomplex nirgends den Nachweis erbracht, dass deren Graveur sich an die exakte Einzelzeichen-Abfolge für die entsprechend lautgerechte Lesung seines Ausdrucks halten musste.
 
August Stieren: Ein neuer Friedhof fränkischer Zeit aus Soest. Germania, Korrespondenzblatt der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts, XIV 1930. Heft 3. (S. 166–175.)
 
Oben links: Das Medaillon, Amulett oder die „Zierscheibe“ (Durchmesser ca. 10 cm) aus der Frauengrabkammer 105, in dem sich auch ein Schlüssel aus Eisen befand. Foto unten: Goldene Cloisonné-Fibel aus der Grabkammer 106, daneben ihre vom Verfasser grob skizzierte Rückseite (Durchmesser ca. 5 cm). Das sogenannte „Runenkreuzmonogramm“ wurde unter anderem A-T-A-N-O und/oder A-T-A-L-O gelesen. Beide Beide Fotos: Verfasser.
Oben rechts: Die Filigranscheibenfibel aus der Frauengrabkammer 165 (Durchmesser ca. 3,5 cm). Zwischen dem Zeitpunkt jener Soester Ereignisse und ihrer ersten schriftlichen Aufzeichnung könnten zwar Jahrhunderte vergangen sein, doch andererseits liefern die Scriptoren der altnordischen und altschwedischen Überlieferungen selbst hinreichende Beispiele für teilweise erhebliche Lautverschiebungen, die auch zur Runenlesung zu berücksichtigen sind.


Fazit und Reaktionen

Markanter erzählungstypologischer Unterschied zum Nibelungenlied

Im Vergleich zur mittelhochdeutschen Nibelungendichtung lesen sich die altnordischen und vor allem die altschwedischen Handschriften über Dietrich von Bern etwa so nüchtern wie ein Polizeibericht (vgl. Quelltextauszug). Dieses Kontrastverhältnis lässt dringend danach fragen, ob aus einem offensichtlich älterem und überwiegend niederdeutschem Quellenmaterial der in das 13. Jahrhundert datierten Þiðreks saga weiter ausgestaltete und insofern auch phantasievollere Werke – darunter auch das Nibelungenlied – hergestellt werden konnten. Dagegen erscheint die altphilologisch vertretene Auffassung, „der historische Kern des Untergangs der Nibelungen bestünde in der Niederlage des Burgunderkönigs Gundahari im Jahr 435/6 gegen weströmische und anschließend gegen hunnische Truppen“ als keineswegs überzeugende monokausale Vereinnahmung – schon wegen ihrer unverkennbaren forschungsideologischen Verknüpfung mit einem Reimepos als eine fabulierende und insoweit die Schauplätze in einen südosteuropäischen Raum verlegende Erzählung. Der Historiker Ernst F. Jung hat die Forschungsarbeiten von Ritter-Schaumburg und Roswitha Wisniewski bewertet und bringt sein Ergebnis zum signifikantesten Unterschied zwischen Þiðreks saga und Nibelungenlied so auf den Punkt: (...) das Gesamtpanorama raumzeithistorischer Art ist ganz und gar verschieden. Die Ths. spielt auf Chronik-Basis in NRW, das Nl. als Spiel dichterischer Phantasie im Donauland.

Jung zitiert in seiner Veröffentlichung Der Nibelungen Zug durchs Bergische Land, S. 113–114, aus einem Merkblatt von Ritter-Schaumburg (datiert 26.12.1985) über

Die Überlieferung der Thidrekssaga bzw. über Dietrich von Bern und die Nibelungen:

Die sogenannte Thidrekssaga oder Didrikschronik ist ein Bericht über Geschehnisse vergangener Zeit, die im niederdeutschen Raum spielen. Sie ist uns nur in den alten nordischen Sprachen erhalten, betont aber an verschiedenen Stellen, daß sie aus deutschen Quellen stamme und auf alten deutschen Liedern beruhe, die bald nach den berichteten Ereignissen entstanden seien. Sie berichtet vom Leben des sagenhaften Königs Dietrich von Bern, den die oberdeutsche Überlieferung gern mit dem Gotenkönig Theoderich dem Großen gleichsetzt. Ein Teil der Saga berichtet auch von Sigfrid und den Nibelungen-Niflungen, die hier in Soest zugrundegehen.
   Die Thidrekssaga gab manche Rätsel auf. Viele ihrer Angaben waren nicht verständlich. Dahin gehörte vor allem die vielumstrittene Stelle vom Ausritt der Niflungen. Da heißt es: 'So ritten sie immer ihres Weges, bis sie an den Rhein kamen, da wo Duna und Rhein zusammenkommen'. Wer vom Nibelungenlied ausging, verstand unter der 'Duna' die Donau und witterte geographischen Unverstand. Man glaubte daher die Thidrekssaga geschaffen durch einen ahnungslosen nordischen 'Sagamann', der im 13. Jh. mit Hilfe deutscher Kaufleute in der alten Hansestadt Bergen die älteste Ths-Handschrift, die sogenannte 'Membrane', zusammengestellt hätte.
   Aber die Stelle war nicht sinnlos; die Ths meinte den norddeutschen Raum. Wirklich mündete in den Rhein bei Wiesdorf-Leverkusen der Dunfluss, die heutige Dhünn, und an dieser Stelle sind uralte Fähren und Furten bezeugt. Die Nennung dieses Punktes beweist genaue Kenntnis dieser Gegend in früher Zeit, und alle Angaben der Ths stimmen dazu. Die Stelle ist ein Angelpunkt zum Verständnis der Ths. Von hier aus reiten die Niflungen an Burg Thorta (Dortmund) vorbei nach Susat (Soest) und gehen dort in wilden Kämpfen zugrunde.
   (Anm. E.F. Jung: H. Ritters Forschungen kreisen letztlich um die literarisch und historisch bedeutsame Frage: Welches ist die ursprüngliche, geschichtsträchtige Quelle der deutschen Heldensage: das Nibelungenlied oder die Ths-Chronik? Er kommt zu dem Ergebnis: )
   Die Ths erwies sich als die Mutter aller Sagen-Überlieferung...!
   Auf eine sehr frühe Zeit verweisen insbesondere die in der Ths genannten Orte. Sie sind alle sehr alt. Keine der vielen von Karl dem Großen gegründeten Städte, Pfalzen und Abteien kommt in der Thidrekssaga vor. Das bedeutet: Die Thidrekssaga kennt nur den vorkarolingischen Zustand dieser Gebiete.
   Alt sind aber vor allem auch die Namensformen der Ths. 'Thorta' ist einer der ältesten Namen von Dortmund. 'Ballofa' entspricht der ältesten Namensform von Balve. 'Brictan' (nördlich Dortmund an der Lippe) ist die Frühform des Ortsnamens Brechten, des einstigen Mittelpunktsortes dieser ganzen Gegend. 'Tyr, Ram, Puli' sind ganz alte Namensformen, und der Name der Niflungenburg 'Vernica' geht auf das römerzeitliche 'Verniacum' zurück.
   An zusammenengesetzten Namensformen kennt die Ths nur die ältesten: viele mit -borg, je zwei mit -stein (sten), -fils, -gard, je einen mit -saela, -lar, -port (an der Mosel), keinen mit -dorp (außer einer späten Erwähnung in Dänemark), einen mit -heim (südlich der Mosel), aber keine der später so verbreiteten Zusammensetzungen mit -ingen, -hausen, -hoven, -weiler, -rode, -bach, -tal, -berg, -feld, -bruch, -scheid usw. Das bedeutet: Die Thidrekssaga hat einen ganz alten Namenbestand, wie sie ihn in späteren Jahrhunderten nicht mehr aufnehmen konnte.
   Aus allem diesem ist zu schließen, daß die Thidrekssaga-Überlieferung aus der Zeit vor Karl dem Großen stammen muß.

  (Anm. E.F. Jung: An ihrer Angabe, daß sie sich von alten deutschen Liedern herschreibt, die bald nach den erzählten Ereignissen entstanden, ist nicht zu zweifeln. Letztlich führen sie zurück bis in die Zeit der fränkischen Landnahme an der Wende vom 5. zum 6.Jh.!)
   Nun hat Karl der Große selbst Lieder in deutscher Sprache sammeln und aufschreiben lassen, die zu seiner Zeit schon als 'antiquissima carmina' angesehen wurden, also als 'uralt'. Es waren Lieder, in denen der frühen Könige Taten und Kriege besungen worden waren. Eben dies aber sind die Inhalte der Ths: Die Taten und Kriege der frühen Könige. Und es ist undenkbar, daß so erregende und dramatische Berichte wie der Niflungen-Untergang sich unter diesen Überlieferungen nicht sollten befunden haben.
   Es ist also unrichtig, von der 'Entstehung' der Thidrekssaga um 1250 zu sprechen und einen 'nordischen Sagamann' als Schöpfer der Ths anzunehmen. Wer das tut, verteidigt einen überwundenen Standpunkt und zeigt, daß er die vorstehenden, seit 1979 vorliegenden Untersuchungen nicht zur Kenntnis genommen hat. Die Ths ist eine deutsche Überlieferung vorkarolingischer Zeit. Dies ist die Kernthese meiner Bücher.
   Daß es sich bei dem in dieser niederdeutschen Umwelt lebenden und handeln – den König 'Dietrich von Bern' nicht um Theoderich den Großen handeln kann, bei den Hünen (hynir) nicht um die Hunnen, bei dem aus Friesland stammenden König Attala-Attila-Atilius nicht um den Hunnenkönig Etzel, das ergibt sich nebenher. Daß mit den 'Niflungen' nicht die Burgunden gemeint sein können, mit ihrer Burg 'Vernica' nicht Worms genannt sein soll, das habe ich im einzelnen aufgezeigt.
   Nach all dem ist es selbstverständlich, daß das Nibelungenlied nicht die Quelle der Thidrekssaga gewesen sein kann. Viel wahrscheinlicher ist, daß umgekehrt die Thidrekssaga- Überlieferung die Hauptquelle des Nibelungenliedes und anderer mittelalterlicher Epen war.

Zu dem von Dichtung und Forschung reichlich gehuldigten Burgunden–Hunnen- Mythos lassen sich auch diese Auffälligkeiten beisteuern:

 1. Nach dem oströmischen Geschichtsschreiber Olympiodoros von Theben (4./5. Jh.) haben im Jahr 411 der Alanen-Anführer Goar und das Burgunder- Oberhaupt Gundahar in Mundiacum in der Provinz Germania II den Gallorömer Jovinus zu ihrem Gegenkaiser erhoben. Jedoch hat man diese Angabe umgedeutet in Moguntiacum für Mogontiacum = Mainz. Dies erfolgte jedoch ohne Rücksicht auf die mindestens ebenso naheliegende oder vielmehr höhere Wahrscheinlichkeit, dass fränkisch-burgundische Völkerschaften andererseits (auch) die Germania II besiedelt haben konnten. Naheliegenderweise darf Mundiacum als Namenspatin für dortige Orte wie etwa „Mündt“ und „Müntz“ (im Raum Mönchengladbach – Jülich) längst nicht ausgeschlossen werden.
 2. Der weit vor den verfügbaren Handschriften des Nibelungenliedes verfasste Waltharius (10. Jh.) bezeichnet einen Gibbich („Gibicho“) als Königsvater des Gunther („Guntharius“) aus dem Geschlecht der Franci Nebulones. Der Dichter des Nibelungenliedes macht Gibbich jedoch nicht zu einem Burgunder, denn er bezeichnet Dankart als Vater der Königsgeschwister. Auch diese genealogische Konstellation spricht für unterschiedliche raumzeitliche Erzählungsverhältnisse zwischen der Thidrekssaga, dem Waltharius und dem Nibelungenlied.

Dieser Kontext wurde forschungsgeschichtlich relativ früh angeschnitten. So auch von Julius R. Dieterich, der in seiner Veröffentlichung Siegehard von Lorsch Der Dichter des Nibelungenlieds (Frankfurt / Darmstadt 1923) das Mundiacum mit dem nördlich von Jülich gelegenen Müntz als Bereiche einer wahrscheinlicheren, zumindest nicht auszuschließenden „burgundischen“ Siedlungsregion des 5. Jahrhunderts in Zusammenhang bringt. Ein Jahr nach Dieterichs Beitrag folgte die textkritisch häufiger zitierte Publikation von Reiner Müller: Die Burgunden am Niederrhein 410–443 (Jülich 1924).

Einige geschichtliche und weitere neuphilologische Rezeptionen

Die ostfränkische Machterweiterung im frühen 6. Jahrhundert bis in den Kölner Raum, so der vom Merowingerkönig Chlodwig I. vorgeplante und von Mittelsmännern (Vertrauensleute?) ausgeführte Hinterhaltsmord am rheinischen König Sigibert während eines Waldausritts auch zu seinem Schatzhort überliefert der fränkische Geschichtsschreiber Gregor von Tours um das Jahr 509. Dieser Vorgang darf als historische Grundlage für Sigfrids Erschlagung also keineswegs ausgeschlossen werden. Nach Ritter-Schaumburgs raumzeitlichen Identifikationen fallen die Niflungenberichte hauptsächlich in den Herrschaftsbereich von Chlodwigs ostfränkischem Thronfolger und Heeresführer Theuderich I. Nachdem er – übrigens nach einem letztlich gescheiterten südgallischen Feldzug – über einen längeren Zeitraum für unsere bislang akkreditierten Geschichtsschreiber im erzählerischen Abseits gelegen hatte, avancierte dieser fränkische Dietrich zu einem Großherrscher über mittel- und z.T. süddeutsche Bereiche, den Rhein-Moselraum mit dessen Metropolen Köln–Trier wie auch zeitweise über weiter westlichere Gebiete. Nach archäologischen Anhaltspunkten und gesicherten geschichtswissenschaftlichen Erkenntnissen erfolgten noch in seiner späten Regierungszeit (gegen Ende des ersten Drittels des 6. Jahrhunderts, danach von seinen Nachfolgern fortgesetzt) fränkische Migrations- und Invasionszüge in rechtsrheinisch-mitteldeutsche Gebiete, die über heutige niederdeutsche und hessische Bereiche bis Thüringen und das westliche Harz-Vorland reichten.

Nach der Zeittafel der Þiðreks saga werden die nach Chlodwigs Einverleibung des Kölner Herrschaftsgebiets und noch vor dem Thüringen-Feldzug des ersten merowingischen Dietrich in einen westfälischen Eroberungsraum ziehenden Niflungen folglich an keiner Stelle in den altskandinavischen Überlieferungen als „Burgunden“ bezeichnet. Die Atlakviða als die älteste entstehungszeitliche Überlieferung vom Fall des niflungischen Duos Gunnar und Hǫgni nennt ihren Gunnar einen vinir Borgunda, einen Freund der Burgunder. Dies trifft wiederum auf Chlodwigs Herrscherzeit zu, in der Franken und Burgunder im Westgotenkrieg von 507/508 gemeinsam gegen den bis Südgallien gezogenen Ostgotenkönig Theoderich den Großen kämpften.

Nach den Darstellungen des Nibelungenlieds und der Þiðreks saga darf aber auch von jener höchstwahrscheinlichen Verschriftlichungskonstellation ausgegangen werden, dass ein früher zu datierender, jedoch verschollener Vorlagenstoff sowohl den niederdeutschen-altnordischen als auch oberdeutschen Überlieferungszweigen als Quellenmaterial diente und die Schreiber der Þiðreks saga und altschwedischen Handschriften ihre Niflungenberichte mit ergänzenden Rezeptionsdetails aus dem Nibelungenlied oder vielmehr deren postulierter Vorstufe geschrieben haben.

Gegenüber dem Dichter des Nibelungenliedes und einer sich zur Anführung erübrigenden Polemik mancher Fachwissenschaftler, die den chronistischen Typus samt Berichtsubstanz auch der altnordischen Textzeugnisse nicht auf essenzielle Widersprüche zu historisch anerkannten oder nachvollziehbaren migrationszeitlichen Vorgängen in einem hauptsächlich ostfränkisch-niedergermanischen Raum ausfiltern und abwägen wollen, lassen die von Ritter-Schaumburg rezensierten Überlieferungen die Nibelungen offenbar weniger phantasievoll nordwärts ziehen. Zugleich hat er damit aber auch die Glaubwürdigkeit altgermanistisch etablierter Deutungsansätze auf den Prüfstand gestellt.


Im Gegensatz zu einigen Privatforschungsbeiträgen, die sich um sachlich differenzierte Auseinandersetzungen mit diesem nur scheinbar „pseudochronistischen Sagenkonglomerat“ bemühen, haben Forschung und Lehre auch nach Ritter-Schaumburg die Þiðreks saga als  Berichtsammlung um einen sagenhaft heroisierten Ostgotenkönig Theoderich den Großen deklariert. In der unbedingten, offenbar noch aktuell verbissenen wie aber gleichermaßen irrigen Vorstellung der Literaturwissenschaft des 19.–21. Jahrhunderts, in den Handschriften der Þiðreks saga und „Dietrich-Chronik“ Theoderich den Großen wiedererkennen zu müssen, kann und muss es sich bei diesen folglicherweise nur drastisch verzerrt begreifbaren Überlieferungen um nicht mehr als „Sage und Dichtung“ handeln. Doch von eben diesem ehernen Postulat, soweit noch gestützt vom schöngeistig verherrlichenden Bestand über mittelalterliche Dietrich-Epik, scheinen sich Germanistik, Nordistik und Skandinavistik auch und vor allem zur Wahrung eigener Forschungsbibliografien nicht mehr trennen zu können. 

Mit einer grundsätzlichen Forschungsperspektive und Parallele auf Ritter-Schaumburgs Analyse der Þiðreks saga zitiert der Germanist Hilkert Weddige in seinen z.T. vergleichenden Untersuchungen am Beispiel des sagengeschichtlichen Bindeglieds Iring in Historiografie und heroischer Tradition (Heldensage und Stammessage, Tübingen 1989, S. 69) unter anderem seinen Forscherkollegen Reinhard Wenskus, der von »unmittelbaren Einwirkungen der historischen Wirklichkeit auf den Gang der Stoffgeschichte« von Heldensagen ausgeht. Diese seien lebendige Überlieferungen bestimmter Personengruppen gewesen, deren »Geschichte sich auch in den Weiterbildungen und Varianten niederschlug«. Dieser rezeptive Stoffkreis schließt die oberdeutsche Nibelungen- und Dietrichepik ein.

Der Philologe Hanswilhelm Haefs (Thidrekssaga und Nibelungenlied, 2004) hat Ritter-Schaumburgs Erkenntnisse über die „Historizität“ der Þiðreks saga kritisch hinterfragt. Auch demnach erscheint die im deutschsprachigen WP gegen ihn als Schlüsselargument hochstilisierte Behauptung, dass er „gesicherte literarhistorische Erkenntnisse über die Sagen- und Geschichtsüberlieferung der germanischsprachigen Völker ignoriert“ (abgerufen 03.12.2012) als ein unkritisches Pauschalurteil, das eine differenzierte Auseinandersetzung mit seinen Forschungsbeiträgen vermissen lässt. Wie auch jener ihm (seinerzeit) als „Faktum“ untergeschobener „erheblicher Schwachpunkt“, wonach – längst jedoch im Widerspruch zu beispielsweise karolingischen Überlieferungen im altnordischen ‚SAGA-Herkunftsmilieu’ – keine der Personen der Sage in historischen Quellen ausgemacht werden kann und gleichzeitig keine historisch bekannte Person in den Sagen auftaucht. (WP über „Heinz Ritter-Schaumburg“, abgerufen 03.12.2021.)

Der Historiker und Mediävist Hans Georg Kirchhoff gelangt mittels Sprachforschung und Lokalisationen aus geschichtlichen Quellen und oralen Überlieferungen zu der Schlussfolgerung, dass für die Nibelungen-Niflungen gegenüber dem dichterisch-burgundischen Worms ein niederrheinischer Heimatbereich wahrscheinlicher erscheint.

Für die bis in faktische Festschreibungen erhobenen Prämissen und Dogmen, dass migrationszeitliche Niflungen – bzw. ein ostfränkisches Invasorenvolk – nach Ritter-Schaumburgs Rezension der Þiðreks saga nicht im westfälischen Soest erschienen sein konnten, haben seine bzw. ihre Kritiker jedoch keinen anerkennungsfähigen Nachweis vorgelegt. Wir vermissen außerdem stichhaltige Belege für Behauptungen, welche die eine oder andere mit Dietrich von Bern verkehrende Heldengestalt in die absolute historische Unmöglichkeit verweisen und – z. B. zur programmatischen Protektion zweifelhafter germanistischer Auffassungen – eine historische Grundlage für einen ethnologischen bzw. toponymisch abgeleiteten Nibelungenbegriff kategorisch ausschließen. Wir vermissen überdies von fachwissenschaftlich wie auch medienpopulär hochgelobten Nibelungenforschern eine seriöse Begründung für Wertungsmaßstäbe, die oberdeutsche Reimepik, so z. B. das Nibelungenlied, zum hierarchisch unantastbaren Gradmesser für Textzeugnisse von nachweislich mediävalchronistischer Überlieferungstypologie erheben. Wir vermissen anhand von bestehender migrationszeitlicher Geschichtsschreibung über die von Ritter-Schaumburg aufgezeigten Raumzeitbereiche jedoch auch eine überzeugende Gegendarstellung, warum die altschwedischen Handschriften nicht mehr als einer „prosaischen Pseudochronik“ genügen sollen. Und wir vermissen nicht nur hierzu nachvollziehbare Entkräftungen der grundsätzlichen Kernsubstanz aus den Beiträgen von Ritter-Schaumburg und jenen Autor(inn)en, die ihn unvoreingenommen rezensieren. Von Forschern, die zu berücksichtigen wissen, dass chronistische Überlieferungen von und in der altnordischen Bibliografie schlicht und nachweislich als SAGA betitelt wurden. Von Analysten, deren Indizienkataloge zur wahrscheinlichsten historischen Ursprungsregion der mit einem linksrheinischen Voreifelraum verknüpften Niflungen–Nibelungen längst sowie ohne verfehlende Fingerzeige auf oberdeutsche Reimdichtung, Dietrichepik und eddische Heldenlieder einen Anspruch auf Widerlegung erhoben haben.

Einer überwiegend positiv-sachlichen Aufnahme der von Ritter-Schaumburg ausgebreiteten Deutungen zu den „historischen Nibelungen“ taten jene besonders unmittelbar und mittelbar gegen ihn gerichtete Einzelunternehmen, darunter einst auch eine TV-Diskussion des Hessischen Rundfunks – vom Historiker Ernst F. Jung als „getrickstes Tribunal gegen Ritter-Schaumburg“ entlarvt – allerdings kaum Abbruch (vgl. Pressestimmen aus der Rezensur).

Heinz Ritter-Schaumburg erhielt für seine Forschungsbeiträge das Bundesverdienstkreuz und den Verdienstorden des Landes Nordrhein-Westfalen.


 
Anhang

Zeittafel: „Nibelungen und Thidrekssaga“ nach H. Ritter-Schaumburg
Dietrich von Bern – Chronik oder Dichtung?
Sachthematische Historizitätsforschung (englischsprachig): Merovingians by the Svava
Ritter-Schaumburg über seine Thidrekssaga-Forschung
Pressestimmen von Medienrezensenten über Ritter-Schaumburg
Zitatauszug über Ritter-Schaumburg zur Frage der Handschriftenpriorität
Quelltext aus der Svava
Dynastien: Sigfrid & Nibelungen nach Ritter-Schaumburg
Zur Schuldfrage von „Attila“ und Grimhild, Atli und Gudrun
Swanhilds Spuren in der Thidrekssaga?
Zwölf um Dietrich von Bern – Heldenphysiognomie aus der Retorte?
Zur Transmission der altschwedischen Didrikskrönikan
Die Mosel im Licht von Thidrekssaga und Dietrich-Chronik: Thidrekssaga-Mosel.pdf
Wadhincúsan, monasterium Ludewici: MonasteriumLudewici.pdf