Erstellt und erstveröffentlicht 2008.    
Stand: 29.12.2017

 
 

Rolf Badenhausen

Zur Transmission der Thidrekssaga und Didrikskrönikan

Eine kritische Nachlese von Klockhoffs Ausschlussbeweis
 
Oskar Klockhoff fand nach intertextuellen Vergleichen der altschwedischen Überlieferung mit den altnordischen/altnorwegischen/altisländischen Handschriften der Thidrekssaga 125 Textstellen, die gegen die Stockholmer Membran(e) (Mb) als unmittelbare Vorlage der altschwedischen Handschriften (Sv) sprechen sollen. Wie er mit seinem daraus abgeleiteten „Ausschlussbeweis“ evident machen will, darf für Sv und den isländischen A/B-Handschriften (Is) nur eine Quelle in Betracht gezogen werden, die mit Mb lediglich in gewissem Grad verwandt ist. 

Henrik Bertelsen hat in seiner Dissertation [1902] die Handschriftenanalyse von Klockhoff aufgegriffen und selbst einige Ergänzungen zu dessen „Ausschlussbeweis“ geliefert. Heinrich Hempel und Bengt Henning haben für Klockhoffs Indizienkatalog einerseits weitere Gemeinsamkeiten von Sv und Is gefunden, die Mb zwar nicht hat, aber nichtsdestoweniger auf Zufälligkeiten beruhen sollen, lehnen aber grundsätzlich Klockhoff und Bertelsen ab. Allerdings lässt Hempel [1924] seine offenbar vorgefasste Meinung durch lediglich beispielartige Beschäftigung mit den Untersuchungen seiner Vorgänger erkennen, und auch Henning [1970] beschränkt sich auf eine oberflächliche und daher wenig überzeugende Behandlung von Klockhoff und Bertelsens Ergänzungen. 

Zuletzt hat sich Hermann Reichert mit Nachuntersuchungen von Klockhoff und auf dessen Ansatz und Indizienkatalog bezogene Beiträge seiner Kritiker befasst. Reichert gelangt zu der Folgerung, dass die von ihnen „nicht behandelten Belege eine neue Deutung nötig machen“ und die „einfache Aussage 'Sv ist eine selbstständig redigierende Abschrift von Mb und hat von der Th nur diese eine Handschrift Mb gekannt' falsch wäre“ [1992:20].

Diese Auffassung stützt sich nicht zuletzt auf die Anfangslakune in Mb. Hier laufen die in Sv und Is bewahrten Vermittlungen bis zur erzähllogischen Diskrepanz zu Dietrichs Hengst Falke derart konform, dass für den vorliegenden Quellenbereich von einer gemeinsamen Vorlage für alle Redaktoren ausgegangen werden darf. 

Aus den von Hempel und Henning gelieferten Zusatzbelegen ist Welands ausführlichstes bzw. gleich zweifach begründetes Ausfluchtargument für den Schwertertausch (Sv 67), das sonst nur Is bewahrt, der sicher signifikanteste: Als ihn König Nidung auffordert, ihm das versprochene Schwert zu übergeben, antwortet Weland, dass sich die Scheide des Schwertes in seiner Schmiede befände und er zuvor noch das Blut davon abwischen müsse. Sv hat hier: oc skall a'n bloden aff strỷkas, Is entspricht mit  Þerra sverdit, vgl. þerraðu = trock(n)en. In Mbb105 (Partition nach Bertelsen, vgl. entsprechend Mbu68 n. Unger) fehlt diese Ausflucht, und so ergänzt auch F. H. von der Hagen die älteste verfügbare Handschrift mit hier in Fettdruck gesetzter Erweiterung: 

Nun verlangte der König, daß Wieland(1) ihm das Schwert
geben solle, und wollte es selber mit sich forttragen.
Da sagte Wieland: „Herr, ich will nur noch die Scheide 
holen, welche daheim in der Schmiede liegt, und das
Schwert abtrocknen, und werde es euch sodann samt
allem Zubehör überbringen.“ 

Diese Identifizierung haben Hempel und Henning mit nicht überzeugender Argumentation heruntergespielt. Wenngleich die handschriftlichen Angaben aufgrund der vergleichsweise kürzeren und unvollständigen Erwähnung von Is nicht gänzlich übereinstimmen, stellt Hermann Reichert fest, dass es sich in diesem Fall um ein Handlungselement handelt, „auf das Sv und Is kaum unabhängig von einander hätten kommen können“. Er folgert zu Recht: „Es kann also für Sv nicht irgendeine Erzählung von der Geschichte irgendeines Schwertes Pate gestanden haben, sondern es muß eine Variante derselben Geschichte gewesen sein, die Is zugrunde lag, also wohl letztlich von *Th stammte.“ [1992:30] 

Die Detailuntersuchungen aller 125 Punkte von Klockhoffs Indizienkatalog haben Hermann Reichert zu 62 Streichungen veranlasst. Hierbei handelt es sich um Abweichungen teils orthografischer Natur, teils aber auch um sprachstilistische Merkmale, „wo Sv kaum hätte anders übersetzen können“. Von den verbleibenden 63 Punkten haben nach Reichert 
   
5
 Signifikanz 0,
21–22
 Signifikanz 1,
27
 Signifikanz 2,
2–3
 Signifikanz 3,
7
 Signifikanz 4,
   
wobei er in einem Fall aus der Häufigkeit größter Signifikanz, so Sv 162 mit Is gegen Mbb277 (siehe unten), drei nominale Entsprechungen innerhalb eines Satzes zu einem Punkt zusammenfasst. 

Er gliedert der niedrigsten Signifikanz jene fünf Fälle ein, in denen zwar Mb eine Angabe in Form eines Wortes, einer Wortgruppe, eines Satzes oder Abschnitts macht, jedoch sowohl in Sv als auch Is derartige Zusätze nicht enthalten sind. Reichert geht hier von Kürzungen in den altschwedischen und isländischen Handschriften aus. Weil aber vor allem die höheren Signifikanzstufen eine gemeinsame Quelle von Mb, Is und Sv, zumindest aber einen (dann näher zu erklärenden) normativen Quellenbereich nahe legen, sollte auch hier eine zur stofflichen Verbreiterung neigende Mb nicht unberücksichtigt bleiben. So besonders anhand von Mbb302 (Mbu194), wo Mb überflüssigerweise bereits bekannte genealogische Angaben nordischer Gestaltenverwandtschaften wiederholt, für Is und Sv (s. altschw. Kap. 180–181) jedoch kein Anlass besteht, mitten in den Berichten von der Bertanga-Fahrt abzuschweifen. Selbst Reichert konzediert in diesem Fall, dass „das Auslassen eines ganzen Kapitels aber gegen die »übliche Kürzungstechnik« von Sv [...] ist“. Insoweit darf der Stellenwert der geringsten Signifikanz erneut kritisch hinterfragt werden. 

Signifikanz 1 vertritt Fälle, „die, falls sie in großer Zahl aufträten, nicht Zufall sein könnten, in geringerer Zahl aber auch zu erwarten sind, wenn Sv Mb und nur Mb kannte“. Auf diesem Niveau wird ein „Korrekturwille“ von Sv und Is gegenüber einer offensichtlich fehler- oder mangelhaften und nicht nur auf Wortbildungen beschränkten Ausdrucksweise von Mb erfasst. Unter dieser Signifikanzstufe fallen auch Passagen, bei denen Mb umständlich formuliert, Sv und Is den Kontext jedoch in ähnlich straffer Form liefern. Zur Signifikanz 2 rechnet Reichert Fälle, die zum einen gemeinsame Fehler vorwiegend orthografischer Art an jeweils gleicher Stelle von Sv und Is erkennen lassen. Zum anderen werden hier auch einfache umgangssprachliche Begriffe registriert, die Sv und Is miteinander verbinden, dagegen Mb an gleicher Stelle eine unschwer unterscheidbare Variante bringt – das Auftreten von Häufungen würde demnach Klockhoff stützen. 

Als Fallbeispiel von Signifikanz 3 nennt Reichert den oben angesprochenen Passus in Sv 67. Klassifizierungstypisch ist ein gemeinsames und sinngemäß verträgliches inhaltliches Additiv(2) von Sv und Is gegenüber Mb. Allerdings müssen auch Alternativen zu Klockhoff berücksichtigt werden, so zu den handschriftlichen Ausdrucksweisen ein übernommenes spezielles Vokabular aus importierter und offensichtlich fremdsprachlicher Quelle. Reichert nennt als Beispiel die auffallend spezifischen Schreibweisen Ostacia und Ostancia

Sein Originalton zur Signifikanzstufe 4:

Is und Sv haben gemeinsam eine Textvariante gegen Mb, die so auffällig ist, daß man sich auch für den Einzelfall mit der Annahme von Zufall nicht beruhigen kann, und es kann auch keine andere Erklärungsmöglichkeit wahrscheinlich gemacht werden, als das Sv seinen Text aus einer uns verlorenen Handschrift der Th hat ... Der Unterschied zwischen 'Signifikanz 3' und 'Signifikanz 4' besteht darin, daß der Stoff in derselben geprägten Wortgestalt auf Island und in Schweden zugänglich gewesen sein muß ...“ 

Die von Hermann Reichert aufgegriffenen Fälle dieser höchsten Signifikanzstufe sind:

Widekes misslaunige Reaktion auf Dietrichs Schenkung von Nagelring an Heime: 
Sv 112: nw ær nagellring illa niderkomen
Is: Nu er Naglhring illa nidur komit
Mbb196 (Mbu108): Vist ertv naglring illa cominn

Wortsequenzmuster der Sitzfolge bei König Dietrichs Gastmahl:
Sv 162: detzleff danske stolte fasholt sintram aff venedi. wildefer
Is: Þettleifur Danski Fasalld stollzi Sintram af Fenidi. Willifer
Mbb277 (Mbu171): Þettleifr oc Fasolld. Sistram oc Villdifer

Heldeneinführung – Gunnars Beschreibung:
Sv 173: Gunnar konung haffde krusat har. krusat skæg oc hvit. (3)
Is A (B hier wenig abweichend): Gunnar kongur var madur lios hær og hrokkinn hær breidleitur liost skegg
Mbb289 (Mbu183): GvnnaR konungr var leos haR oc breiðleitr. leost skeG (4)
Nur Sv und Is überliefern ihn mit krausem Haar, das auch die Mágus saga angibt.

Isung-Kämpfe – Am(e)lung gegen den 6. Königssohn:
Sv 197: Sigord swen haffde skikkat mot Amlunge. then wekaste konungs søn. tý at Amlunge war hans frænde.
Is A berichtet wie Mb, hat aber wie Sv den Zusatz, dass der (auf Sigfrids Betreiben) gegen Amlung angetretene Königssohn der schwächste war: war siaa kongs son vsterkastur
Mbb311 (Mbu212): oc hævir þeira viðskipti sua farit sem firir hafði ætlat Sigurðr suein.

Isung-Kämpfe – Detzleff gegen den 9. Königssohn:
Sv 200: tha sagde detzleff till hanum. iak skall nw dræpa tik vtan tw løser hagen min gode wen / konnungens søn sagdis thz gerna wilia gøra.
Is A: seigist Þettleifur skulu binnda hann edur drepa nema hann laati lausann Hœgna og þat vill kongsson giarna.
Is B: qvedst Þiettleifur mundi binda hann ef ei leiser hann sig þvi, ad giefa gang Høgna og leisa hann, og þad vill hann giarnann
Mbb314 (Mbu215): kvæz / munu binda hann ef hann vill æigi lœysa sic sva at gefa gang hogna oc lœysa hann.
Nach Sv droht Detzleff seinem Gegner, ihn zu erschlagen, wenn er Hagen nicht auslöst.
Is A lässt Detzleff von binden und erschlagen sprechen, in Is B und Mb ist nur von binden die Rede. Als weitere hervorstechende Besonderheit liefern nur Sv und Is A die explizite Einwilligung des Königssohns.
 

Mit Ausnahme des ersten der oben aufgeführten Fälle höchster Signifikanz beziehen sich alle übrigen auf König Dietrichs Gastmahl und die Isung-Kämpfe, deren Überlieferungen der dritte Redaktor der Stockholmer Handschrift redigiert hat. Man wird Hermann Reichert zustimmen können, dass diese Berichte einer (bereits verschriftlichten) Tradition zugeschrieben werden dürfen, „die auch unabhängig von ihrem Eintritt in die Th nach Schweden gelangte und so Sv schon bekannt war ...“ [1992:31]. Dieses Postulat erscheint insofern berechtigt, als eine andernfalls stark gestörte Textkohärenz von *Th auch unter Berücksichtigung der redaktionellen Überarbeitung von Mb2 durch Mb3 nicht plausibel erscheint. 

Zu den auffälligsten Abweichungen nur von Sv zählt die Mitgliedschaft des „Gernholt“ im Heldenkreis um König Dietrich. Wenn durch intertextuelle Erschließungen aus Thidrekssaga und Nibelungenlied z.B. nach L. Polak [1913], W. Krogmann [1957] und R. Wisniewski [1961] dieser Niflungenbruder mit hoher Wahrscheinlichkeit niederdeutscher Herkunft ist, darf dessen altschwedisch gewürdigter Stellenwert als hierzu weiteres und insbesondere von diesen Forschungsbeiträgen unabhängiges Indiz gewertet werden. Sein aus eddischer Tradition des ,,Guthorm“ konvertierter Auftritt ließe sich mit integrativer historiografischer Gestaltenkonzeption erklären. 

Darüber hinaus kann zu den altschwedischen Berichten vom Gastmahl, der Heldenschau und der Isung-Kämpfe hier nicht weiter über sichere Anteile gestalterischer Eigenleistung von Sv ausgesagt werden.
 

Eine ergänzende Untersuchung von Hermann Reichert, die über Klockhoffs Ansatz hinausgeht, befasst sich mit appositioneller Statistik über Þettleifr, den die Manuskripte von Mb teils mit, teils ohne seinen Beinamen danski führen. Reichert kommt zu dem Ergebnis, dass die Berichte über den dänischen Kämpen mit dem Redaktionswechsel von Mb2 zu Mb3 nichts zu tun haben können und daher – „wie aus der hohen Übereinstimmung von Is mit Mb hervorgeht“– der ursprünglichen bzw. gemeinsamen Vorlage entstammen müssen. Dieser textschematischen Charakteristik entspricht Sv jedoch nicht, und angesichts dieses Zusammenhangs wird man einen berichtspezifischen Kürzungswillen von Sv gegenüber Mb und den hier ohnehin erkennbar weniger betroffenen Is nicht unbedingt ableiten können. Vielmehr wird der Sv-Redaktor, der in seinen ersten 51 Detzleff-Nennungen nie dessen nationales Attribut hinzusetzte, zu den Berichten des Dänenhelden entweder einer anderen Quelle gefolgt sein oder, wie Reichert mit seiner Auswertung zur Disposition stellt, anhand seiner Vorlage die Apposition frei gesetzt haben [1992:16]. Noch zu beachten ist vor allem der Zusammenhang, dass Is ebenso wie Sv eine auffallend knappe Fassung von den Jugendabenteuern des Dänenhelden liefern! 

Hermann Reichert resümiert aus seinen Untersuchungen: 

Eine Teilquelle der Th, die die Grenzen der späteren Redaktionen Mb2 und Mb3 überschreitet, hatte ihn anscheinend immer ohne danski geschrieben. Eine andere Quelle diente *Th für den letzten Teil der Detlevsage (seine Heirat und schließlich sein Tod im Wilzenland), da dort danski in einer Bemerkung des Redaktors *Th, die auf Ermenriks Gastmahl zurückverweist, also auf den ersten Teil der Detlevsage, in dem das danski, wenn man die wohl redaktionellen Überschriften abrechnet, überhaupt nicht vorkommt. Dem Sprachgebrauch des Redaktors *Th scheint also die Form mit danski besser entsprochen zu haben. Wenn er sie trotzdem auf lange Strecken nicht setzte, weil sie eben nicht in der entsprechenden Teilquelle stand, darf vermutet werden, daß die Teilquellen der Th oft sehr wörtlich kopiert wurden, wir also *Th in mancher Hinsicht besser einen Redaktor als einen Autor der Th nennen. Die Th wäre dann ein 'Werk ohne Autor'. Wie Rückverweise [...] zeigen, rechnete *Th damit, daß sein Werk der Reihe nach (vor-)gelesen würde, nicht vor ausschnittsweise wechselndem Publikum.“ 

Er determiniert für *Th, das kapitale Werk als Quelle der untersuchten Manuskripte [a.a.O., S. 33–34]: 

Es soll keine Sammlung von Erzählungen darstellen, sondern ein in Abschnitte untergliedertes Großwerk.“ 

Zum traditionsgeschichtlichen Umfeld der vorliegenden Handschriften die Einschätzung von Heinrich Beck ergänzend [a.a.O., S. 35]: 

In der Diskussion, ob die Zusammenfügung von Einzelerzählungen zum Großwerk eher in Niederdeutschland (Soest?) oder in Norwegen denkbar ist, hat sich zuletzt Heinrich Beck sehr vorsichtig geäußert, der (wegen der sächsisch dänischen Erzählintention und Perspektive) die Th thematisch im sächsisch-dänischen Raum lokalisiert, in der Erzähltechnik aber Anknüpfung an altnordische Beispiele akzeptiert ...“ 

Die Frage, ob für *Th überhaupt eine Zusammenfügung von Einzelerzählungen zwingend in Anspruch genommen werden darf, kann jedoch weder mit einem mehrköpfigen Schreibkollegium von Mb noch mit ihrem gestaltenchronologisch und -genealogisch durchaus weitgehend stimmigen, durch Mb3 aber z. T. redigiertes und scheinbar neu akquiriertes Quellenmaterial stereotypisiert werden. Die Verteilung der signifikanten Gemeinsamkeiten von Is und Sv gegenüber Mb (siehe Anlagendiagramm unten) deutet vielmehr auf ein Großwerk als Vorlage dieser Handschriften hin. 

Die an Klockhoffs Ansatz anknüpfenden Untersuchungen und die hierzu von Hermann Reichert gelieferte Þettleifr-Statistik lassen sich als schlagkräftige Indizien für das nicht erhaltene Großwerk *Th werten. Nach den hier angeschnittenen textstatistischen Zusammenhängen müssen die Gründe für die redaktionellen Umbrüche und erkennbaren gestalterischen Maßnahmen in und von Mb offensichtlich bei ihr selbst gesucht werden. Insoweit kann die linguistische und stilistische Eigenschaft von *Th jedoch nicht so restriktiv eingeschnürt werden, dass sie nicht als Ganzes nach Norwegen gelangt sein darf. 

Als wichtige Zwischenerkenntnis bleibt festzuhalten, dass Is und Sv wegen gemeinsamer inhaltlicher Zusatzinformationen nicht einzig aus Mb, so der Stockholmer Handschrift, entnommen haben können. Interessanterweise darf *Th unter der berechtigt erscheinenden Voraussetzung, dass sie zum einen chronistisch-historiografisch und zum anderen nüchterner als Mb berichtet – somit vergleichbar und insgesamt weniger Einschränkungen für Is –, sehr wohl die Quelle repräsentieren, die Heinz Ritter-Schaumburg als *Sv und somit Hauptvorlage der altschwedischen Handschriften benannt hat. Zugleich muss darauf hingewiesen werden, dass dem Sv-Redaktor den sicher umsichtigsten Umgang mit seinem Quellenmaterial eingeräumt werden muss. Hierzu zählt vor allem sein erzähllogisches Richtigstellen durch „Vor- und Zurückblättern“ in den Vorlagen. Es lässt sich allerdings nicht negieren, dass zum altschwedischen Umfeld zwar von mehreren Quellen (darunter Mb, vgl. Verfasser 2007:55), aber auch von hierarchischer Vorlagenordnung und einer selbst von Ritter-Schaumburg hervorgehobenen gestalterischen Freiheit ausgegangen werden muss.(5) In einen quellenspezifischen, zumindest noch zu klärenden rezeptionellen Zusammenhang fallen Gestaltennamen von Sv, die nicht aus dem Norwegischen übernommen sein können. Wie der Verfasser außerdem darauf hingewiesen hat, möchte Sv einen milderen hunischen Landesvater vermitteln.(6)

Darf von einem „Redaktor“ im Sinne seines literarischen Titels noch die Rede sein, wenn er den Quellenstoff so weit verändert, dass sein Werk neue Sinndeutung rechtfertigt? Ein Vergleich der Stockholmer Handschrift – deren Einfluss von Mb3 zu Recht für einigen Forschungs- und Diskussionsstoff sorgte – mit den isländischen und altschwedischen Überlieferungen zeigt, dass zwar chronologische Verzerrungen von Gestalten-Vitae und damit verbundenen Handlungsabläufen zu konstatieren sind, jedoch abschnittsweise vorliegende Kerninhalte – soweit erzähllogisch erkannte Mängel ausgeklammert werden dürfen – kaum betroffen sind. Man vergleiche aber auch und vor allem die edierungstransitiven Auswirkungen von Mb2 nach Mb3 mit den Freiheitsgraden des Redaktors von Is A!(7)

Wenn zwei oder mehrere auf eine gemeinsame Überlieferung zurückgreifende mittelalterliche Handschriften ihren Vermittlungsstoff in unterschiedlicher Breite darbieten, dann wird man kritisch zu hinterfragen und umsichtig zu prüfen haben, ob und inwieweit nach allgemeinen literaturgeschichtlichen Beobachtungen und besonderen quellenspezifischen Umfeldkriterien aus mediävaler Verarbeitung von Heldenepik, Historiografien und Chroniken hier das Vorhaben von Stoffkürzung in der umfänglich kürzeren Handschrift evident gemacht werden darf. Dieser Zusammenhang hat in unserem Fall Auswirkungen auf Klockhoffs „Ausschlussbeweis“ und die vernichtenden Urteile seiner Kritiker. 

Ritter-Schaumburg hat die ausdruckstilistischen, hauptsächlich „emotionalen“ Unterschiede zwischen Mb und Sv als redaktionelle Aufschwellungen der altnorwegischen Festlandhandschrift eingestuft. Wenn er andererseits mit Beispielen aufzeigt, dass Sv den Bericht über Hagens Herkunft noch textmelodisch erweitert, zu Sigfrids Begegnung mit Regen jenes schicksalsträchtige Blatt auf der Schulter des Helden hinzufügt, dann möchte auch der altschwedische Redaktor seine Vorlage bzw. seinen Quellenbereich weiter ausgestalten und diesen wohl kaum kürzen. Hier sind zum einen eher seltene Ausnahmefälle zu konzedieren, zum anderen fordert Ritter-Schaumburg anhand seiner überwiegend synoptischen Indizien eine altschwedische Stoffvermittlung, aus der die stilistische Orientierung ihrer nach linguistischen Merkmalen offenbar dänischen Hauptquelle durchscheint. Wohl insoweit ordnet er die in der Rolle des Gislher zu identifizierende Gestalt Gyntar dieser Vorlage und eher nicht der schöpferischen Eigenleistung des Redaktors zu. 
 

Fazit

Ein Konsens über die Handschriftenabhängigkeiten von Mb, Is und Sv zu deren Vorlage(n) scheint vom Standpunkt Ritter-Schaumburgs in der Form greifbar, dass teils unter Ausschluss, teils unter Berücksichtigung von Nebenquellen *Th nicht oder nicht wesentlich über den Umfang von Sv berichtet haben wird. Die in den verfügbaren Handschriften feststellbaren Divergenzen können zumeist auf wenig erhebliche (z. T. phlegmatische) Auslassungen ihrer an überschaubaren stilistischen Varianten und (zum gemeinsamen inhaltlichen Überlieferungskontext) eher marginalen interpretativen Einlässen interessierten Scriptoren zurückgeführt werden. Gleichwohl darf die konzeptionelle Reorganisation von Mb3 dabei nicht übersehen werden.(8) Besonders zu denken gibt aber auch Is A, die auffälligerweise mit ihrem Niflungenbericht z. T. ältere Vermittlungswerte als die hier bereits überarbeitende, jedoch eindeutig früher abgefasste Stockholmer Festlandhandschrift vertritt. Auch dieser Zusammenhang ist mit einer verschollenen archaischen Vorlage und zweifellos vorhandenen Spielräumen zu deren Übertragung vereinbar. Eine Mahnung, dennoch im Detail dem gestaltengenealogischen Kontext eines offensichtlich importierten Quellenberichts zu folgen, mag also schon der dritte Redaktor der Festlandhandschrift anhand der Darstellungen seines Vorgängers Mb2 hinterlassen haben.

Bestimmte textlinguistische Indizien, so vor allem aus den Bereichen Geografie, Topologie und Militaria, harmonieren wiederum mit einer übersetzten und somit weiter an Wahrscheinlichkeit gewinnenden Großquelle als (un)mittelbare Vorlage der greifbaren Handschriften, die nicht nur Roswitha Wisniewski und Heinz Ritter-Schaumburg gegenüber einer eher abzulehnenden altnordischen Komposition u./o. Kompilation nach „deutscher Oraltradition“ postulieren. Zugleich bleibt aber auch darauf hinzuweisen, dass Hermann Reichert mit seiner aus alternativen Transmissionsmodellen herausragenden Filterung und Betonung von *Th als „Großwerk“ – so aus seiner eingehenden Nachverfolgung des Klockhoff'schen Ausschlussbeweises – der kritischen Thidrekssaga-Forschung neue Impulse verliehen hat. 

Anlage 
Endnoten  
1  Da es sich bei den hier betrachteten Handschriften um eine übersetzerische Übertragung eines umfassenden chronistischen oder historiografischen Berichts aus dem niederdeutschen Raum handeln darf, werden in diesem Beitrag (mit Ausnahme des herkunftspezifisch altdänisch überlieferten Þettleifr) deutschsprachige Gestaltennamen bevorzugt, vgl. hierzu die Thidrekssaga-Ausgabe von F. H. von der Hagen.   

2  Die grundsätzliche Verwendung dieses Begriffs ist insbesondere für Mb insofern nicht unproblematisch, als das antonymische Defizit im Vergleichstext auf einer Kürzung basieren darf.   

3  Ritter-Schaumburg übersetzt: Gunter-König hatte lockiges Haar, lockigen Bart und weißblond ...   

4  F. H. von der Hagen übersetzt: König Gunter hatte lichtes Haar und breites Angesicht, hellen und kurzen Bart ...

Fine Erichsen übersetzt: König Gunnar hatte helles Haar, ein breites Gesicht, einen kurzen, blonden Bart ...   

5  Die von H. Ritter-Schaumburg nachgewiesene textmelodische Ambition von Sv zur Rede von Hagens Vater über seinen Sohn wird man ebenso gut dem altschwedischen Verfasser und somit nicht notwendigerweise einzig seiner fremdsprachlichen Vorlage zuschreiben dürfen; vgl. [1989:440].

H. Reichert schreibt [1992:5] unter Fußnote 13 zur Textproblematik, dass unter „Autor“ (mit Einbeziehung mittelalterlicher Poetik) eine Person gesehen werden muss, die einen Stoff mit eigenem Sinngebungskonzept und sprachstilistischer Eigenart verarbeitet, hingegen ein Redaktor diesem Prozess nur zum Teil entsprechen darf. Seine Aufgabe besteht vielmehr, so Reichert, im Bearbeiten bzw. Ändern sprachstilistischer Ausdrucksformen noch ohne eigenes Sinngebungskonzept, oder im „Redigieren“ einer Vorlage im Interesse einer neuen Anordnung – wobei eine durch die neue Zusammensetzung entstehende neue Sinndeutung seine Eigenleistung erhöhen würde.   

6  Verfasser 2007 (s. u.), siehe auch dessen Online-Beitrag Zur Schuldfrage von „Attila“ und Grimhild, Atli und Gudrun  

7  Siehe Endnote 2 im Online-Beitrag des Verfassers Swanhilds Spuren in der Thidrekssaga?  

8  Der Einfluss von Nebenquellen und Surrogaten, soweit die vorliegenden Handschriften heranzuziehen und zu erkunden sind, ist in Anbetracht gemeinsamer Vermittlungswerte als wenig erheblich einzustufen. Die Abweichungen von Mb2 zu Mb3 zum Tod des Wilzenkönigs Osantrix müssen, wie [2007:284] zur Disposition stellt, jedoch nicht notwendigerweise auf unterschiedlichen Traditionen beruhen. Ebenso gut darf eine schöpferische Eigenleistung von Mb3 angenommen werden. Vier von insgesamt fünf Divergenzen der höchsten Signifikanzklasse 4 befinden sich in einem auffällig kleinen Kapitelbereich zwischen Sv 161 und Sv 200 (vgl. Mbu169–215). Die redaktionelle Zuständigkeit für diese Berichte nach der ältesten verfügbaren Handschrift fällt in die Kompetenz des vorgenannten Redaktors.

Während jene in diesem Folianten fehlende „1. Lage“ die Überlieferungen von Samson und seinen Söhnen, Dietrichs Jugend sowie die einführenden Berichte über Hildebrand, Heime und Brunhild enthalten haben sollte, erscheinen die in dieser Handschrift fehlenden Schlussteile über Heimes Klosteraufenthalt und Tod sowie Dietrichs Entrückung auf einem schwarzen Ross einer kritischen Nachbetrachtung wert: Mit Aldrians Rache an König „Attila“ als durchaus beabsichtigter Schlussteil der „ursprünglichen Gesamtüberlieferung der Membran“ [vgl. Verfasser 2007:357] hätten für deren vom „Wadhincúsan“-Bericht gestörte Anonymität und somit auch zur Wahrung eines sonst aufgelösten zeitgeschichtlichen Kontinuums in dieser Handschrift Auslassungen vorgenommen werden müssen, die die Endberichte nach der Vorlage der jüngeren Überlieferungen betreffen. Sollte dies der Fall gewesen sein, wäre auch Dietrichs „Entrückung“ bewusst oder unbewusst herausgenommen worden, siehe auch den  Online-Beitrag Wadhincúsan, monasterium Ludewici des Verfassers.

Hinsichtlich der Anfangslakune der Stockholmer Handschrift sollten die erzähllogisch wenig geschickten Platzierungen der Berichte über Dietrichs Pferd Falke (aus Heimes ererbtem Gestüt) sowie insbesondere der Hinweis auf Hildebrands Schwertschlagtechnik nicht unbeachtet bleiben. Hier könnte es sich um Angaben handeln, die ursprünglich in Heimes und Hildebrands ersten Einführungen enthalten waren. Mbu187 legt zum Verdacht einer Nachreichung die Vermutung nahe, dass dem Schriftleiter dieser Überlieferung Inhalte der nur in Is und Sv bewahrten ersten Kapitelbereiche nicht unbekannt waren.

Wegen jener nur von Is und Sv gelieferten Berichte darf postuliert werden, dass alle verfügbaren Handschriften auf einer verschollenen Großvorlage beruhen, die dem Mb3-Schriftleiter der ältesten Überlieferung (von dem uns Aldrians Rache an „Attila“ als Schlussbericht gegeben wird) in ungekürztem Umfang vorgelegen haben könnte.   

 
Quellen  
Oskar Klockhoff, Studier öfver Þiðreks saga af Bern. Upsala Universitets årsskrift 1880.
Henrik Bertelsen, Om Didrik af Berns sagas oprindelige skikkelse, omarbejdelse og håndskrifter (Diss.). Kopenhagen 1902.
Heinrich Hempel, Die Handschriftenverhältnisse in der Þiðreks saga. PBB 48, 1924.
Bengt Henning, Didrikskrönikan. Handskriftrelationer, översättningsteknik och stildrag. Stockholm 1970.
Heinz Ritter-Schaumburg, Die Didrikschronik oder die Svava. Otto Reichl – Der Leuchter, St. Goar 1989.
Hermann Reichert, Heldensage und Rekonstruktion. Fassbaender, Wien 1992.
Rolf Badenhausen, Sage und Wirklichkeit. Dietrich von Bern und die Nibelungen. Monsenstein und Vannerdat, Münster 2007.